Geträumt, ich renne schreiend durch Sofia. Dazu muss man wissen, dass in Bulgarien schreien nichts besonderes ist, weil hier alle Menschen schreien. Mein Schreien ist aber anders, ich schreie mir fremde Menschen an: „Ihr seid lebende Tote, Tote auf Abruf!“, und sie begreifen es einfach nicht. Vorher war ich in einem Supermarkt, wo mich die Verkäuferin aufforderte eine Maske aufzusetzen, woraufhin ich sie anschrie: „Sie sind so gut wie tot!“ – Alles im Traum wie gesagt, in dem ich zuvor aus dem Radio erfahren hatte, dass sich in Bulgarien nur 18 von 100 Menschen impfen lassen, im Gegensatz zu Deutschland, wo es 81 sind. Hatte ich zuvor keine Angst, im Gegenteil, ich fühlte mich bisher in Bulgarien viel freier als Deutschland, so werde ich im Traum regelrecht panisch. Ich sehe auch anders aus in meinem Traum, wie eine Mischung aus Adolf Hitler und Karl Lauterbach. Anfangs hatte ich noch das Mantra des letzteren geschrien: „Es geht um Leben und Tod!“, wofür es aber zu spät ist, weswegen ich gleich wieder aufgehört habe damit. Am Ende von meinem Traum war ich ziemlich ausgepowert von dem vielen Schreien, aber immerhin noch am Leben, genauso wie die Menschen, die ich zuvor angeschrien hatte. Nun, am Morgen nach meinem Traum, bin ich ratlos. Jetzt nicht wegen meinem Traum, sondern wegen der Frage der Herdenimmunität. Wird im bulgarischen Radio bis heute dafür geworben, dass wenn 70 von 100 sich impfen lassen, alle Maßnahmen aufgehoben werden im Land, so wurden in Deutschland, wie ich erfahren musste, nun Wissenschaftler gefunden, die das Gegenteil behaupten, dass es bei dieser Impfung keine Herdenimmunität gäbe. Neigte ich in der Vergangenheit dazu, deutschen Wissenschaftlern zu vertrauen, so halte ich es heute mit den Bulgaren und ihrem National-Radio „Christo Botew“ – jetzt ganz im Ernst und nicht im Traum. Der im Land verehrte Dichter und Freiheitskämpfer Christo Botew hat förmlich den Tod gesucht und mit gerade mal 28 Jahren im Balkangebirge auch gefunden, und niemand hat ihn davon abgehalten. Im Gegenteil, es gab sogar 206 Getreue, die bereit waren, mit ihm in den Tod zu gehen. Sollen sie doch alle in den Tod gehen, diese verdammten Bulgaren, denke ich. Sogleich kommen mir aber Zweifel, warum die Bulgaren ausgerechnet jetzt aussterben sollten, nachdem sie all die Krisen, den Exodus vieler Landsleute und auch das ständige Rauchen und Saufen überlebt haben. Eine gewisse Erleichterung macht sich breit, keine Spur mehr von Panik. Nein, sogar etwas Hoffnung keimt in mir auf, dass ich wie in einer Nussschale zusammen mit den Bulgaren, die zuvor bereits die Osmanen und die Kommunisten überlebt haben, überleben würde. Trotz, oder vielleicht besser wegen: Deutschland: 81 – Bulgarien: 18.
Foto&Text TaxiBerlin