Bericht aus einem gebrochenen Land (095)

“Ich war immer gegen dieses ‘Wir schaffen das'” – so kritisch hatte ich den Schriftsteller Ingo Schulze gar nicht in Erinnerung. Zumindest nicht, als er Gast in meiner Radiosendung “Hier spricht TaxiBerlin” war. Da wollte er vor allem über sein neues Buch “Die rechtschaffenen Mörder” sprechen, obwohl es zum Zeitpunkt des Interviews noch gar nicht erschienen war und ich es demzufolge auch nicht gelesen haben konnte. Aber sei’s drum. Oder war der Buchtitel vielleicht doch ein Fingerzeig auf diese aktuelle Aussage von Ingo Schulze: “Wir sagen so einfach, die Ukraine muss weiterkämpfen. Aber wer das sagt, sollte letztlich auch bereit sein, seine eigenen Kinder in den Krieg zu schicken.” Zumindest deckt es sich mit dem, was ich schon lange sage und vor kurzem auch der Papst. Interessant auch Ingo Schulzes Begründung, nämlich dass fast jeder Mann im Osten in der Armee gewesen wäre. Der Autor aus Dresden hält die Verunsicherung, die viele Menschen in Ostdeutschland ergriffen hat, für absolut erklärbar. Wörtlich sagt Schulze: “Viele fühlten sich 1989 als Subjekt der Geschichte, ein Jahr später waren sie überflüssige Arbeitskräfte. Alles war weg, und wir waren völlig naiv dem Westen gegenüber.” Und weiter: “Die Verunsicherung von damals wirkt bis heute.” Interessante und vor allem ganz neue Töne von der schreibenden Zunft in unserem Land, auch wenn viele ähnliches bereits seit langem sagen. Ich will kein Spielverderber sein, aber hat da vielleicht nur jemand realisiert, dass der Wind sich dreht, der sein Fähnchen jetzt nur in den sich drehenden Wind hält? Wenn ich mich richtig erinnere, nannte man solche früher “Wendehälse”. Aber wie gesagt, ich will kein Spielverderber sein.
Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (093)

Manchmal ist unter der S-Bahn sicherer als in ihr
Heute war ich wieder mit den Öffentlichen in Berlin unterwegs. Genauer mit der S-Bahn. Dort kamen zwei Frauen miteinander ins Gespräch, die sich offensichtlich nicht kannten. Das Gespräch, zumindest was ich davon mitbekam, war nicht der Rede wert. Das Ende aber schon. Das Finale, bevor die zweite Frau ausstieg, also ihren Abgang aus der S-Bahn machte, anstelle von Wiedersehenswünschen ging so:
Erste Frau: Ich hab’ was gegen Menschen.
Zweite Frau: Na dann ist das ja voll Ihre Zeit.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (092)

Gestern war ich in Charlottenburg im ehemaligen West-Berlin, wo ich plötzlich Hunger bekam, weswegen es mich zu Rogacki in die Wilmersdorfer Straße trieb. Rogacki, der Name kommt aus dem Polnischen und ist auch in den USA zu finden, ist nicht nur für seine Feinkost und Delikatessen bekannt, sondern auch für sein Mittagsangebot. Zu diesem gehört seit Ewigkeiten überbackener Fisch mit Kartoffelsalat (Foto). Das letzte Mal war ich vor vielleicht fünf Jahren bei Rogacki. Damals habe ich für eine vergleichbare Portion zehn Euro bezahlt. Gestern habe ich mir eine Schorle dazu gegönnt. Das Wetter war schön, die Sonne schien und wir saßen vor dem Feinkostgeschäft auf dem Bürgersteig. Der überbackene Fisch und auch der Kartoffelsalat waren lecker wie immer. Der Unterschied war, dass ich gestern knapp das doppelte bezahlt habe, genau waren es 19,50 Euro. Aber gut, noch etwas war anders: die Apfelschorle. Die schlug mit 2,70 Euro zu Buche.
Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (091)

Gestern hat es mich an die Freie Universität ins beschauliche Dahlem verschlagen, wo diese Aufnahmen entstanden. Genau war es auf dem Bahnsteig vom U-Bahnhof Dahlem-Dorf. Was ist zu sehen? Eine Sitzgarnitur bestehend aus drei Holzfiguren für drei bis vier Personen. Die linke und rechte Figur sind stilisierte Frauen. Man erkennt das an den Brüsten. Die zwei Frauen gehören offensichtlich dem Mann in der Mitte, der sie beide mit seinen Händen anfasst. Möglicherweise sind es zwei Freundinnen des Mannes oder gar seine Erst- und Zweitfrau. Dass die mittlere Figur ein Mann ist, erkennt man an dem Penis und den beiden Testis, den paarig angelegten Hoden und Nebenhoden, links und rechts vom Penis siehe Foto unten. Der Penis teilt auch die Sitzmöglichkeit, weswegen ich von einer Sitzgarnitur für drei bis vier Personen sprach. Wenn jeweils zwei Personen auch auf den Sitzmöglichkeiten der Frauen sitzen, kann die Sitzgarnitur sogar bis zu sechs Personen Platz bieten. Auf der anderen Seite der Sitzgarnitur befindet sich eine identische Sitzgarnitur aus Holz. Auch sie hat in der Mitte ein Penis mit zwei Testis auf der mittleren Sitzfläche und zwei Brustpaare an der Lehne links und recht davon. Die Sitzgarnituren gibt es schon seit vielen Jahren, mindestens 25. Ich frage jetzt nicht, warum sie noch stehen. Immerhin sind nur zwei Geschlechter dargestellt. Darüber hinaus noch ein Mann mit zwei Frauen. Mich bringt die Sitzgarnitur auf die Idee, dass der Mann grundsätzlich seinen Penis samt Testis genauso präsentieren könnte wie eine Frau ihre Brüste. Warum keine gepolsterten Testis-Halter für den Mann, der seine paarig angelegten Hoden und Nebenhoden genauso schön zur Geltung bringt wie der Büsten-Halter die Brüste der Frau?

Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (090)

Vier Monate bin ich nun schon wieder in Berlin. Keine so lange Zeit, aber doch mehr als ein Vierteljahr. Ich war viel unterwegs in dieser Zeit, habe alte Freunde getroffen, aber auch neue Menschen kennengelernt. Bei einem alten Freund war ich mir nicht sicher, ob wir nicht doch nur Bekannte sind beziehungsweise waren. Die Corona-Zeit hat auch uns auseinander dividiert, so wie sie viele Menschen auseinander dividiert hat. Bezugnehmend auf diese Zeit und für mich völlig unerwartet meinte mein alter Freund beim Wiedersehen, dass er viel darüber nachgedacht hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass ich mit dem meisten, was ich zu dem Thema gesagt und geschrieben habe, Recht gehabt hätte. Wie gesagt, die Aussage kam für mich völlig unerwartet. Auch deswegen geht sie mir nicht aus dem Kopf. Vor allem aber, weil sie Größe hat. Die Größe eines wahren Freundes, aber vor allem die einer stabilen Persönlichkeit, wie man in Bulgarien sagt. Ob dieser Freund auch sagen würde, dass Rainer Mausfeld in seinem obigen Vortrag mit dem meisten Recht hat, das weiß ich nicht. Und es ist auch nicht wichtig. Letztendlich muss das jeder für sich herausfinden. Ich halten vieles, was Rainer Mausfeld sagt und schreibt, beispielsweise in seinem neuen im Westend-Verlag erschienenen Buch “Hybris und Nemesis”, für wichtig und richtig. Ich schreibe dies hier auch deswegen auf, weil ich dem zustimme, was er in seinem obigen von der Ökologisch-Demokratischen Partei organisierten Vortrag vor nur wenigen Tagen in München gesagt hat. Und zwar, dass das Einzige, was uns bleibt, ist, zu “Sagen, was ist!”
Video YouTube
Text TaxiBerlin

“Bernhard in Bulgarien – Eine balkanische Erregung”

Bernhards Ohrensessel in Sofia

“Bernhard in Bulgarien – Eine balkanische Erregung”, das war meine Idee für meinen Text, der gerade in der Berliner Zeitung erschienen ist. Die Berliner hat daraus “Thomas Bernhards ‘Holzfällen. Eine Erregung’: Ein Monospektakel ohne Spektakel” gemacht, was absolut in Ordnung ist. Es passiert regelmäßig, dass Titel von eingereichten Texten geändert werden. Mein eingereichter Text ist dafür unverändert, das ist heute nicht unbedingt selbstverständlich, und dafür danke ich der Berliner Zeitung. Überhaupt ist die Berliner Zeitung eine der ganz wenigen, die ich noch lese, die ich noch ernst nehmen kann. Ob man meinen Bericht über das Theaterstück “Holzfällen. Eine Erregung” in der “Topolcentrala” in Sofia ernst nehmen kann, das muss jeder für sich entscheiden. Ich bin der Meinung, dass sich für “Holzfällen. Eine Erregung” sogar eine Reise nach Sofia lohnt. Die Flugdauer von Berlin nach Sofia beträgt zwei Stunden. So lange dauert auch das Theaterstück.

Foto&Text Rumen Milkow

Bericht aus einem gebrochenen Land (089)

STERBEN LIEBEN KÄMPFEN – so der Titel eines Theaterstücks in der Zentrale des deutschen Irrenhauses. Ich komme drauf, weil Schüler auf Krieg, also aufs Kämpfen und Sterben, vorbereitet werden sollen. Das fordert die Bundesbildungsministerin. Das hatten wir schonmal, und zwar Ende der Siebziger in der DDR. Da wurde dort der so genannte Wehrkundeunterricht eingeführt. Genutzt hat es nichts, das Land ist trotzdem den Bach runter gegangen. Zehn Jahr vergingen zwischen Einführung des Wehrkundeunterrichts und dem Untergang des Landes und damit des Systems. Zehn Jahre sind nicht wenig, insbesondere wenn man jung ist und sein Leben noch vor sich hat. Vor allem am Ende dieser zehn Jahre sind die Menschen in der DDR sich nochmal näher gekommen, als sie es sonst schon waren. Etwas, was auch jetzt passiert, obwohl man weiter versucht die Menschen auseinander zu dividieren. Immer mehr realisieren, was wirklich wichtig ist im Leben, zum Beispiel zu Lieben.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (088)

Sarah Bosetti bekommt den Grimme-Preis. Als ich diese Nachricht gehört habe, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Sarah Bosetti, wer sie nicht kennt, wollte Menschen wie mich wegschneiden lassen wie einen Blinddarm, denn dieser sei zum Überleben des Gesamtorganismus nicht notwendig, so Bosetti. Bevor Bosetti mit ihrem Skalpell kommen konnte, habe ich mich in die Schluchten des Balkans vor Menschen wie Bosetti in Sicherheit gebracht. Jetzt bekommt Bosetti dafür den Grimme-Preis.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (087)

Am Bahnhof Friedrichstraße

Noch bringt Bustouristik KRIEG Busse voll harmloser Touristen nach Berlin. Das könnte sich bald ändern. Nomen ist schließlich Omen. Dann könnte möglicherweise auch dein Sohn mit einem von ihm an die Ostfront gefahren werden. Auch wenn er sich selbst als Frau lesen sollte. So verstehe ich Matthäus 26,52: “Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.” – Oder in einfachem deutsch, damit es auch einfach strukturierte Zeitgenossen verstehen: “Wer Waffen schickt, wird Krieg bekommen.”

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus einem gebrochenen Land (086)

Es gibt schlimmeres als auf der Straße zu leben, auch wenn die guten Plätze immer rarer werden. Der Platz oben ist in vielerlei Hinsicht ideal. Der Eingang zur U-Bahn an der Lichtenberger Brücke ist überdacht. Auf der Straße zu leben, bedeutet also nicht automatisch, kein Dach mehr über dem Kopf zu haben. Der Mülleimer am Kopfende dient sowohl der Ordnung, als auch zur Schatzsuche. Das ist keine Übertreibung. Man findet in ihm regelmäßig Schätze, einige von ihnen sind sogar essbar. Manchmal bekommt man ganz und gar ein Lunchpaket vor die Nase gestellt wie oben. Das ist aber die Ausnahme. Die meisten Menschen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Vor allem mit der Sorge, morgen selbst auf der Straße zu sitzen. Das absolute Highlight dieses Platzes am Bahnhof Lichtenberg ist der Fahrplan gleich nebenan (links im Bild). Damit verpasst man keine Bahn mehr. Wenn man mal zu einem Vorstellungsgespräch oder gar zu einer Wohnungsbesichtigung will.

Foto&Text TaxiBerlin