Bericht aus Bulgarien (161)
Das ist jetzt definitiv der letzte Beitrag von mir heute. Das Internet, das dank des Smartphones meines Lesers Joachim aus Bremen nun jederzeit in meiner Hütte verfügbar ist, ist eine große Verführung für mich. Einerseits verständlich, nachdem ich es ein Jahr lang “entbehren” musste. Ja, es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass ich in Bulgarien und damit ohne permanent verfügbares Internet bin. Wenn es eines Beweises bedurfte, dass dies möglich ist, dann habe ich ihn erbracht.
Es gibt auch noch ein anderes Jubiläum, denn es ist jetzt genau vier Jahre her, dass ich trocken bin, dass ich dem Alkohol komplett entsagt habe. Auch das ist möglich, und ich fühle mich sehr gut dabei, sowohl körperlich als auch seelisch. In “Nüchtern” von Daniel Schreiber habe ich gelesen, dass man fünf Jahre braucht, um wieder man selbst zu werden. (Übrigens das beste Buch, das ich zum Thema gelesen habe, weswegen ich es sogar zweimal gelesen habe, einmal von vorne nach hinten und dann nochmal von hinten nach vorne, also Kapitelweise.)
Die fünf Jahre sind noch nicht vorbei, ich bin also noch nicht am Ziel, und vielleicht werde ich es auch nie sein. Ich denke, “Werde, der du bist”. – ein Motto von Nietzsche, bei dem er sich bei dem Griechen Pindar bedient hat, ist eine Lebensaufgabe. Sie wird uns demzufolge ein Leben lang begleiten, bis zu unserem Ende. Manch einer wird dabei auf der Strecke bleiben, in (s)einem falschen Leben, vermutlich mit das schlimmste, was einem passieren kann im Leben.
Was mir gerade passiert, ist auch schlimm, aber nicht so schlimm wie “Das falsche Leben”. Ich muss mich wirklich in Acht nehmen, dass ich die eine Sucht, den Alkohol, nicht durch die andere, das Internet, ersetze. Das ist kein Quatsch, denn die Summer aller Süchte ist immer gleich, zumindest gefühlt, und wenn man nicht aufpasst. (Das mit der Summe ist auch ein Running-Gag bei den Anonymen Alkoholikern, aber nicht nur. Der Running-Gag von Jerry und mir folgt sogleich.)
Auch deswegen werde ich morgen nach Sofia fahren, und sowohl das Notebook, als auch das Smartphone hier lassen. Ich werde mich nicht alleine, sondern zusammen mit meinem besten englischen Freund Jerry in die bulgarische Hauptstadt begeben, und darauf freue ich mich schon jetzt, denn Jerry und ich sind seit dem vergangenen Jahr in einem intensiven Austausch, der für uns beide wichtig ist, so denke ich, vielleicht sogar existenziell wichtig, aber who knows?
Jerry, der in einem Nachbardorf wohnt, und ich haben viel Spaß miteinander. Unser liebster Running-Gag ist: “Don’t trust the mayor!” – Dazu muss man wissen, dass mein Bürgermeister nicht nur mein Bürgermeister, sondern auch mein Freund ist. Zu Jerrys englischem Humor kommt hinzu, dass er am liebsten Deutscher wäre. Ich finde das einerseits irre, andererseits aber auch verständlich.
Wenn der Deutsche nicht so bescheuert wäre mit seinem permanenten sich schuldig fühlen, das sich unter anderem in seinem Zwang zur politischen Korrektheit und dem Verhunzen seiner eigenen Sprache ausdrückt und regelrecht selbstzerstörerisch sein kann – aber nicht nur für ihn selbst, sondern auch und vor allem für andere, seinem duckmäuserischen Gehorsam und seiner übergroßen Angst, dann könnte er wirklich Großes vollbringen.
Aber so bleibt es bei dem, was schon Nietzsche über ihn gesagt hat: „Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: Denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut.“
Jerry, der eigentlich Musiker ist, hat durch mich seine Liebe zum Lesen (und neuerdings auch zum Schreiben) wiederentdeckt, und ich bin durch ihn in meiner Affinität zu klassischer Musik bestätigt wurden. Der Hauptgrund, dass wir morgen zusammen nach Sofia fahren, ist der, dass dort gerade eine Buchmesse stattfindet, die wir besuchen wollen.
Dann will ich mich noch mit meinem besten bulgarischen Freund und Übersetzter Martin und natürlich auch mit meinem alten Bekannten, den Dudelsackspieler treffen, und wenn es klappt auch noch den Verleger vom “Ost-West-Verlag” kennenlernen, für den Martin arbeitet. Das wäre sozusagen das Sahnehäubchen. Aber auch wenn aus dem Kennenlernen nichts werden sollte, wird es ein Abenteuer werden, ein Balkan Road Movie, aber eben eins ohne Internet und Smartphone.
In dem Zusammenhang kann ich mich nur nochmal wiederholen: Ein Leben ohne Internet und Smartphone ist nicht nur möglich, sondern auch lebenswert. Ich kann nur jedem empfehlen, es mal auszuprobieren, beispielsweise in Bulgarien.
Foto&Text TaxiBerlin