Bericht aus Bulgarien (49)
In meinem Beitrag „Rote Linie in Sofia“ für Multipolar erwähne ich eine Frau, die die regelmäßigen Demonstrationen der Partei „Wiedergeburt“ in der Stadt Montana mitorganisiert, und die man bei mir im Dorf als „stabilna shena“ bezeichnen würde, eine stabile Frau also, die die Dinge anpackt. Am Freitag traf ich sie, ihr Name ist Eva, wieder, wieder rein zufällig und wieder in Montana. Eva begrüßte mich erneut mit der Mitteilung, die bulgarische Regierung stürzen zu wollen, diesmal am kommenden Mittwoch, den 23. Februar um 11 Uhr. Die Chancen, die aktuelle Regierung aus dem Amt zu jagen, die keine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich weiß, stehen diesmal um einiges besser als noch am 12. Januar, und nicht nur des Wetters wegen. Wir haben gerade frühlingshafte Temperaturen in Bulgarien, damals waren sie noch um den Gefrierpunkt. Diesmal geht es auch nicht nur gegen den Grünen Pass, sondern auch gegen die steigenden Preise, insbesondere bei Gas und Strom, aber auch bei Lebensmitteln. Viele Bulgaren können sie nicht mehr bezahlen, einigen Gemeinden im Land wurde deswegen schon der Strom abgestellt. Und bevor man dort im Dunkeln sitzt, kommt man lieber zur Demo nach Sofia. So nicht nur die Theorie von Eva, sondern auch von Ivanka. Beide sind in der Partei „Wiedergeburt“ oder stehen ihr zumindest nahe. Im Selbstverständnis westlicher Medien sind sie damit automatisch „nationalistisch“, wenn nicht gar „ultranationalistisch“, wobei mir der Unterschied nicht so ganz klar ist. Vermutlich ist das eine einfach nur „schlimm“, das andere aber „ganz schlimm“. Wie in meinem Taxi, so kann bei mir auch in Bulgarien ein jeder alles sagen, was aber nichts besonderes hier ist, sondern Alltag. Nach meinem Gespräch mit den beiden kann ich weder das eine noch das andere bestätigen. Weder ist Eva mit ihrer großen Einkaufstasche von der deutschen Supermarktkette „Kaufland“ mit der Aufschrift „Aus Liebe zu Bulgarien“ vor den Sieben-Rila-Seen „nationalistisch“, noch ist Ivanka, sie studiert Mode in Sofia und hat nicht die Absicht, ihre Heimat wie jede/r zweite in ihrem Alter nach dem Studium zu verlassen, „ultranationalistisch“. Ich jedenfalls finde die beiden nicht nur nett, sondern darüber hinaus ihre Argumente gegen den Grünen Pass und eine mögliche Impfpflicht absolut nachvollziehbar. Sie decken sich mit denen, die ein Geimpfter hier neulich mal für die Berliner Zeitung aufgeschrieben hat. Aber am besten macht man sich selbst und vor Ort ein Bild, deswegen sind wir damals ’89 auf die Straße gegangen, um uns die Welt ansehen zu können, und deswegen auch obiges Foto. Ich werde auf jeden Fall am Mittwoch als Augen- und Zeitzeuge und auch als Fotograf in der bulgarischen Hauptstadt sein. Gestern auf der Demo in Montana waren wir schon mal sieben, wobei ich mich da schon mitgezählt habe. Umso gespannter bin ich zu erfahren, wie viele zum nächsten landesweiten Protest am 23. Februar um 11 Uhr diesmal vor dem Ministerrat und nicht vor dem Parlament nach Sofia kommen.
Foto&Text TaxiBerlin