Abstimmung mit den Füßen heute
Die bekannteste Form der Abstimmung mit den Füßen ist die über Ungarn im Jahre 1989, und um ein Haar hätte ich an ihr teilgenommen. Die DDR-Bürger, die keine „Reiseanalage“, also keine Erlaubnis, für Ungarn erhielten, mussten bei ihrer Abstimmung mit den Füßen mit den Vertretungen der Bundesrepublik, eine Art Botschaftsersatz, in Prag und Warschau vorlieb nehmen, woraufhin der Platz in den dortigen Gebäuden eng wurde. Weniger bekannt ist die Abstimmung mit den Füßen der Rumänen, die im selben Jahr ihrem Führer bei einer seiner großen Rede vor vielen Menschen plötzlich geschlossen den Rücken zuwandten. Dem Diktator stockten damals die Worte, mit dieser Reaktion seiner Untertanen hatte er nicht gerechnet. Im rumänischen Fernsehen wurde daraufhin die Direktübertragung mit dem Hinweis auf ein Erdbeben unterbrochen. Eine Abstimmung mit den Füßen ist also auch auf engstem Raum möglich, das haben die Rumänen bewiesen.
Gestern wurde im Nachbarland Rumäniens, in Bulgarien, zum dritten Mal in diesem Jahr gewählt. Offizieller Titel der Wahl war „Zwei in Eins“, weil sowohl das Parlament als auch der Präsident direkt gewählt wurden. „Zwei in Eins“ ist auch ein fertiger, allerdings untrinkbarer Mix aus Nescafé und Zucker. Es gibt auch „Drei in Eins“, ein Mix aus Nescafé, Zucker und Milchpulver, der ebenfalls untrinkbar ist. Die Wahlen waren wie gesagt schon die dritten in diesem Jahr und standen somit von vornherein unter keinem guten Stern, nicht nur was die Namensgebung anging. Bei der möglicherweise bevorstehenden vierten Wahl innerhalb eines Jahres dürfte der Stern dann bereits untergegangen sein.
Dazu muss man wissen, dass Bulgarien das am schnellste schrumpfende Land weltweit ist, ohne dass ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte. Jeder dritte Bulgare lebt bereits im Ausland und wählte dementsprechend auch dort. In Berlin konnte man in der Bulgarischen Botschaft in der Leipziger Straße wählen und in einem Hotel im Westteil der Stadt. Bulgarien ist aber nicht nur das Land mit dem größten Exodus seiner Bevölkerung in Friedenszeiten, sondern auch das ärmste Land der Europäischen Union. Trotzdem wurden auch bei dieser Wahl, es war wie gesagt bereits die dritte in diesem Jahr, Wahlautomaten in jedes Dorf gekarrt, selbst wenn diese praktisch ohne Einwohner sind. Wahlautomaten, die aussehen wie Geldautomaten, an denen man aber kein Geld ziehen kann, sondern die nur eine Quittung ausspucken, eine „Wahl-Quittung“. In Sachen Wahlautomat ist uns das ärmste Land der Europäischen Union voraus.
Die Wahlbeteiligung in Bulgarien lag bereits bei der letzten Wahl im Juli bei nur knapp über 40 Prozent, in manchen Landesteilen sogar unter 30 Prozent. Bei der gestrigen „Zwei in Eins“ Wahl erreichte die Wahlbeteiligung einen neuen Tiefstand, nur ein Drittel der wahlberechtigten Bulgaren gingen noch wählen. Auch ich habe nicht gewählt, genauso wie ich im September nicht in Deutschland gewählt habe. Nun bin ich dabei, bei der Abstimmung mit den Füßen.
Man stelle sich eine Meinungsumfrage in Deutschland vor, bei der nur ein Drittel der Befragten beispielsweise der Meinung sind, dass ein erneuter Lockdown unumgänglich sei. Allen wäre klar, dass man dieser Meinung nicht folgen dürfe. Nun gibt es ein ganzes Parlament, einen Präsidenten und bald vermutlich eine Regierung, der ein ganzes Land folgen muss, obwohl nur ein Drittel der Bevölkerung an der Wahl teilgenommen hat, und das in der Europäischen Union.
So etwas wird es bei uns nicht geben, so etwas kann nur auf dem Balkan passieren, höre ich jetzt den ein oder anderen Landsmann in der Heimat sagen. Der Balkan ist nicht näher, als manch einer denkt, und wir können viel von ihm lernen. Und nicht nur weil nahezu alle jungen Bulgaren bereits bei uns sind und bald auch die Wahlautomaten. Es steht außer Frage, Wahlautomaten werden demnächst auch in Deutschland zum Einsatz kommen, nicht nur in der Bulgarischen Botschaft in der Leipziger Straße und in einem Hotel im Westteil der deutschen Hauptstadt. Bulgarien ist nicht nur was die Uhrzeit angeht Deutschland voraus.
Auch dem deutschen Wähler soll das Wählengehen so einfach wie möglich gemacht werden. Wenn er schon keine Wahl hat, dann wenigstens bequem. Aber wenn selbst auf dem Monitor keine Alternative mehr steht, weil die Politik in den letzten Jahren immer alternativloser geworden ist, dann bleibt nur noch die Abstimmung mit den Füßen. Die Bulgaren haben es gestern vorgemacht, wie man selbst in Zeiten von Corona, in denen man auch nicht mehr rübergehen kann, mit den Füßen abstimmt.
Foto&Text TaxiBerlin