Mein erstes Care Paket und mein möglicherweise letzter Beitrag
Meine Wunschadresse
Gestern erreichte mich in den Schluchten des Balkans mein erstes Care Paket aus Österreich. Care Pakete gab es nach dem Krieg auch in Deutschland, damals kamen sie aus Amerika. Die Zeiten ändern sich. Auch einen Krieg hat es hier an sich nicht gegeben. Und trotzdem ist Bulgarien, was seine Bevölkerung angeht, das am schnellsten schrumpfende Land weltweit, ohne dass wie gesagt offiziell ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte. In meinem Dorf sind nur noch mein Bürgermeister und ich verblieben. Alle anderen haben sich rechtzeitig vor den morgigen Neuwahlen in Sicherheit gebracht. In Bulgarien spricht man in dem Zusammenhang auch nicht von „Emigration“ sondern von „Evakuierung“, also von „sich in Sicherheit bringen“. Viele sind nach Deutschland gegangen. Wenn demnächst Bulgaren neben dir einziehen, dann sind sie möglicherweise aus unserem Dorf. Doch zurück zu mir und meinem ersten Care Paket, das mich wie gesagt gestern erreichte. Pakete kommen also an, obwohl auch bei der Bulgarischen Post kaum noch jemand arbeitet. Mein erstes Care Paket ist aus Wien, das ist die Hauptstadt von Österreich und liegt ziemlich genau zwischen Berlin und hier. Mein Care Paket aus Österreich kam aber nicht nur an, sondern war auch nur eine Woche unterwegs, was eine Spitzenzeit ist. Normalerweise braucht eine simple Postkarte mindestens einen Monat, manchmal auch ein Jahr und manch eine kommt auch nie an. Möglicherweise arbeiten bei der Bulgarischen Post bereits Gastarbeiter aus Deutschland. Das ist durchaus vorstellbar, denn immer mehr Menschen aus „Germanija“, wie Deutschland auf Bulgarisch heißt, suchen ihr Glück in den Schluchten des Balkans. In meinem Fall sind die Schluchten nicht nur verkehrt, sondern regelrecht irreführend, denn „Biloto“ heißt „Auf dem Grat“. Ich wohne also „Auf dem Grat“ des Balkangebirges Nummer 24. Auch der Ort „Spanchevtci“ lässt sich übersetzen, er heißt auf Deutsch „Sich schlafen legen“. Beides, also sowohl die Straße „Auf dem Grat“, als auch der Ort „Sich schlafen legen“ hat sich mein Bürgermeister für mich ausgedacht. Deswegen gebe ich sie hier auch an. Wenn es nur noch wenige Einwohner gibt, wie das in meinem Dorf der Fall ist, in dem nur noch mein Bürgermeister und ich wohnen, kann man sich die Namen selber ausdenken in Bulgarien. Das ist ein Trick, mit dem man die letzten Bulgaren zum hierbleiben verleiten möchte. Manchmal klappt das. In dem Fall von meinem Dorf hat es geklappt. Wie es aussieht, werde hier bleiben, auch damit mein Bürgermeister nicht ganz alleine ist. Wenn mein Bürgermeister Zeit hat, bringt er mir meine Post selbst vorbei. Mein Bürgermeister ist nicht nur Bürgermeister und Barmann, sondern auch Postbote. Mein Care Paket aus Wien habe ich mir in seiner Kneipe abgeholt. Auch wenn außer uns niemand mehr im Dorf wohnt, hat mein Bürgermeister immer viel zu tun. Gerade hat er für mich das Freibad mit Mineralwasser aufgefüllt. Mein erstes Care Paket wiegt zwar nur 0,41 kg, aber Masse ist nicht alles, wenn wie in meinem Fall Edelmetalle drin sind. Selbst Edelmetalle kommen neuerdings an, früher ein Unding, aber was noch wichtiger ist: Auch du kannst mir ein Care Paket schicken, es muss keine Edelmetalle enthalten (auch wenn das natürlich schön wäre), und solltest es auch tun, denn vorher gibt es keinen weiteren Beitrag über Überlebensstrategien für den Balkan und anderswo, die auch für dich sehr bald sehr wichtig sein werden. Von irgendwas muss auch ich leben, genauer: überleben. Alternativ kannst du mir auch Geld auf mein Konto überweisen. Auf Nachfrage teile ich dir gerne meine Bankverbindung mit. Du kannst natürlich auch vorbeikommen und deine Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Du wärst nicht der erste, der diese Möglichkeit als Sprungbrett für seine eigene Evakuierung aus Deutschland nutzt, um wenigstens sich selbst in Sicherheit bringen. Vielleicht musst du auch demnächst ausziehen, einfach weil du deine Wohnung nicht mehr bezahlen kannst. Bei uns im Dorf gibt es jede Menge freien Wohnraum, und nicht vergessen: Ich kenne den Bürgermeister, wir sind Freunde. Was das Arbeiten angeht, da mache dir keine Sorgen. Schon vor dem Abgang vieler Landsleute gab es in Bulgarien „Arbeit für das gesamte chinesische Volk“. Auch wenn ich von Besuchen „Auf dem Grat“ in „Sich schlafen legen“ abzusehen bitte, so ist deine Arbeitskraft hier immer Willkommen. Und auch wenn die Adresse eine Wunschadresse ist (die Möglichkeit gibt es in Bulgarien wirklich, so wie es in Deutschland Wunschkennzeichen fürs Auto gibt), die sich mein Bürgermeister für mich, seinen Freund aus Deutschland, das er sehr mag, ausgedacht hat: Uns gibt es wirklich! Was noch wichtiger ist: Die Post kommt auch an, selbst Edelmetalle, obwohl die Adresse wie gesagt eine Wunschadresse ist. Aber das wichtigste ist: Du hilfst mir jetzt, und ich helfe dir demnächst, wenn du Hilfe brauchst – versprochen!
Foto&Text TaxiBerlin