Bericht aus Bulgarien (543) – “Beklagenswert”?

oder “nicht gut”?

Gestern ist eine Diskussion, fast könnte man von Streit reden, über den bulgarischen Text meines Projektes entbrannt. Ich hatte ihn von einer Bekannten vom Deutschen ins Bulgarische übertragen lassen und einer Nachbarin zum Lesen gegeben. Der Auftakt war das Wort “beklagenswert”, das ich im Deutschen dafür verwende, den Zustand des Stalls zu beschreiben. Im Gegensatz zum obigen Stall ist mein Dach noch halbwegs dicht. Alle Einheimischen, die ich bisher gefragt habe, darunter auch viele Handwerker, waren der Meinung, dass man meinen Stall nicht erhalten kann, einfach weil der Zustand zu schlecht sei. Das hat in Bulgarien noch nichts zu bedeuten. Mit meinem Bad habe ich dieselbe Erfahrung gemacht. Alle waren der Meinung, ich könne den Holzboden nicht erhalten, sondern müsste das Bad komplett fließen, wie das in Bulgarien üblich ist. Und das, obwohl ich von Anfang an die Duschkabine erwähnte, die ich ins Bad stellen wollte. Aber der Bulgare kann sich eine geschlossene Duschkabine nicht vorstellen, darüber hinaus kein Bad, das nicht vollständig mit Fließen zugekleistert ist, und das mangels Duschkabine oder auch nur Duschvorhang immer komplett nass ist nach dem Duschen. In meinem Bad gibt es keine einzige Fließe, dafür Holzdielen auf dem Boden und eine Duschkabine. Am Ende meinten alle, die vorher gesagt hatten, dass das nicht geht, dass das so natürlich gehen würde. Zurück zum Wort “beklagenswert”. Das klinge zu negativ, auch wenn es stimmt, zumindest im Deutschen, solle ich auf Bulgarisch lieber “nicht gut” als Zustandsbeschreibung des Stalles verwenden, um den Bulgaren nicht abzuschrecken, weil “beklagenswert” hier “hoffnungslos” sei. Nur “nicht gut” kann alles und nichts bedeuten, so denke ich. Aber egal, weiter im Text. Meine Nachbarin meinte, ich sollte nicht schreiben, dass unsere Region die ärmste Bulgariens und der EU sei, weil das zu negativ klinge. Meinen Einwand, dass es die Wahrheit ist, ließ sie nicht gelten. Auch in Spanien und Italien gäbe es solche Regionen, sogar in Deutschland. Das wisse sie, auch wenn sie nie in Deutschland war. Es mag sie durchaus geben, und demnächst mit Sicherheit noch mehr, aber nicht in diesem Ausmaß. Dass praktisch jedes zweite Haus verfällt oder schon in sich zusammengefallen ist, weil jeder Zweite das Land verlassen hat, das ist schon ziemlich einmalig in Europa, vor allem was die Häuser angeht. Im Gespräch stellte sich heraus, dass meine Nachbarin sich sorgt, dass wenn ich die Wahrheit schreibe, ich die Menschen abschrecken würde. Ich will jetzt nicht klugscheißen, aber da es um einen Rückzugsort für Schreibende geht, erlaube ich mir Ingeborg Bachmann zu zitieren, die der Meinung war, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei. Neulich habe ich den Verfall, der mich hier überall umgibt, als marode beschrieben, um an den maroden Charme zu erinnern, und weswegen Anfang der Neunziger Menschen nach Berlin gekommen sind. Das ist sozusagen mein positiv Sehen der Dinge. Verglichen mit dem maroden Charme damals, würde ich den hier und heute als maroden Charme hoch Zwei bezeichnen.

Foto&Text TaxiBerlin

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