Bericht aus Bulgarien (525) – “Baba Bore liest nicht”
Auf dem Boulevard in Vraca, auf dem ich gestern flanierte, gibt es das größte Buchgeschäft der Stadt, dessen Angebot ich studierte. Ich hatte Zeit, denn Baba Bore (Oma Borislawa), auf die ich wartete, war beim Arzt, und Ärzte nehmen sich in Bulgarien viel Zeit für ihre Patienten. Geht man in Deutschland zum Arzt, hat dieser oftmals nicht nur keine Zeit, sondern vergisst darüber hinaus manchmal sogar die wichtigsten Fragen. Das sind die nach Stuhlgang & Urin, dem Schlaf und dem Essen & Trinken. Ähnlich ist es auch mit dem, was Buchgeschäfte in Bulgarien anbieten. Die Auslagen unterscheiden sich erheblich in beiden Ländern, der Blick in das Schaufenster des größten Buchgeschäftes gestern in Vraca ist ein Beispiel dafür. In der oberen Reihe stehen fünf Bände von Charles Bukowski, darunter “Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten” von Robert M. Pirsig, “Die Zitadelle” von Archibald Cronin, “Einer flog übers Kuckucksnest” von Ken Kesey und drei Bücher von Erich Maria Remarque. Erich Maria Remarque ist neben Erich Kästner der meistgelesene deutschsprachige Autor in Bulgarien. Archibald Cronin war der einzige Autor, der mir im ersten Moment nichts sagte. Cronin ist Schotte, im Mittelpunkt seines 1937 erschienenen Buchs “Die Zitadelle” steht der junge Arzt Andrew Manson, der sich nach einem hart erkämpften Medizinstudium seinen Weg ins Berufsleben bahnt. Es geht dabei um Themen wie Korruption, bürokratische Routine und Privilegienwirtschaft auf Kosten des ärztlichen Ethos, was interessant für mich ist, und nicht nur weil meine Nachbarin Baba Bore gerade beim Arzt saß. Am Boden stehen drei Bände Dostojewski, links “Schuld und Sühne”, daneben zwei unterschiedliche Ausgaben von “Die Brüder Karamasow”. Besondern die mittlere finde ich sehr schön, weswegen ich sie noch einmal separat fotografiert habe (Foto unten). Der Preis pro Buch liegt zwischen 10 und 15 Euro, was sich vergleichsweise wenig anhört, in Bulgarien aber schon eine Menge Geld ist. Insbesondere für die in Bulgarien verbliebenen älteren Menschen. Meine Nachbarin Oma Borislawa, die gerade beim Arzt war, bekommt nach 40 Jahren Arbeit eine Rente von 320 Euro, wie ich auf der Fahrt nach Vraca erfahren hatte. Auf der Rückfahrt erzählte sie mir dann, dass sie nicht lesen würde, zumindest keine Bücher. Dafür hätte sie keine Zeit. Sie ist zu sehr mit ihren Kindern, Adoptiv- und Enkelkindern und mit ihrem großen Garten beschäftigt, den sie gerade bestellt, und der sie alle ernährt.
Cover von Dostojewskis “Brüder Karamasow” sinngemäß: Ich denke nicht, dass der Teufel existiert, sondern der Mensch ihn nach seinem eigenen Bild erschuf.
Fotos&Text TaxiBerlin