Bericht aus Bulgarien (27)
Immer wenn ich meinen Bürgermeister sehe, und ich sehe ihn praktisch jeden Tag, überlegt er, wann er kommt, um eine Überdachung für die Eingangstür zu meiner Hütte zu bauen. Im Moment ist es zwar zu kalt dafür, aber wenn es demnächst ein paar wärmere Tage geben sollte, würde er wohl anfangen mit den Arbeiten. Dass ausgerechnet mein Bürgermeister für mich arbeiten will und auch muss, liegt daran, dass alle anderen Maistors aus unserem Dorf in Deutschland sind. Außerdem habe ich meinem Bürgermeister im letzten Jahr geholfen, eine Überdachung für seinen neuen Balkon zu bauen. Bei seinem Balkon habe ich ihm auch geholfen, fällt mir gerade ein. Unser Deal ist deswegen, dass ich ihm nur das Material bezahle, das er bereits für mich gekauft und auch bezahlt hat. Vielleicht ist das auch ein Grund, dass er praktisch jeden Tag an meine Überdachung denkt, wofür ich ihm noch das Material bezahlen muss. Mein Bürgermeister hat im vorletzten Jahr schon viel für mich gearbeitet. Bezahlt habe ich ihn immer am Ende, wenn alles erledigt war, was in Bulgarien eher ungewöhnlich ist. Aber da mein Bürgermeister und ich auch Freunde sind, vertrauen wir einander. Dazu muss man wissen, dass ich ihn seit 20 Jahren kenne, damals war er noch kein Bürgermeister. Mein Bürgermeister vertraut mir, auch wenn er manchmal ein bisschen genervt ist von mir, weil ich von ihm erwarte, dass er wie in Deutschland, also „Made in Germany“, arbeitet, wo er noch nie war. Mein Bürgermeister hat mich deswegen sogar schon mal „prätentiös“ genannt. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass ich nicht „prätentiös“ sondern „sensitiv“ bin, so wie er, denn sein Sternzeichen ist der Krebs, der bei mir im Aszendent ist. Seither ist meinem Bürgermeister der Unterschied zwischen „prätentiös“ und „sensitiv“ klar. Auch wenn mein Bürgermeister diesmal kein Geld für seine Arbeit haben will, weil ich wie erwähnt für ihn gearbeitet habe, wird er am Ende mehr Geld von mir bekommen als in der Vergangenheit. Das steht jetzt schon fest. Der Grund dafür ist, dass die Preise fürs Material sich seither verdoppelt haben, auch in Bulgarien. Möglicherweise ärgert sich mein Bürgermeister, aber nicht, dass er praktisch umsonst für mich arbeiten soll, sondern dass er nicht schon im vorletzten Jahr seinen Balkon gebaut hat, als er mir meinen samt Überdachung gebaut hat. Andererseits wäre er ohne meinen Balkon möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen, sich selbst einen bauen zu wollen. Die Wahrheit ist nämlich, dass sich mein Bürgermeister in meinen Balkon verliebt hat und erst deswegen überhaupt auf die Idee gekommen ist, auch für sich einen Balkon zu bauen. Wahr ist auch, dass mein Bürgermeister nicht nachtragend ist. Und wie sollte er auch, ausgerechnet auf mich, seinem Arbeit- und Ideengeber.
Foto&Text TaxiBerlin