Mein Nervenkostüm

Schon lange überlege ich, mal über mein Nervenkostüm zu schreiben. Nun scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein. Es werden jetzt sieben Jahre, dass ich keinen Alkohol mehr trinke. Seit ich in Bulgarien bin, gehe ich offen mit meiner Sucht um. Ich tue das nicht, um mich wichtig zu machen. Es gehört einfach zu meinem Motto: “Werde, der du bist!”, das ich bei Nietzsche gefunden habe. Dazu gehört auch, zu seinen Fehlern und Schwächen zu stehen. Auch um andere dazu zu ermutigen. Am Ende muss jeder für sich entscheiden, wie er mit seinen Fehlern und Schwächen umgeht. Dies gehört zu den Dingen, auf die ich keinen Einfluss habe. Das zu verstehen, dazu hat mir das Gelassenheitsgebet der Anonymen Alkoholiker geholfen. Ich war bereits mehr als zwei Jahre “trocken”, wie man unter Alkoholikern sagt, bevor ich das erste AA-Meeting (Treffen der Anonymen Alkoholiker) besucht habe. Ich gehörte zu denen, die dachten, dass ich einfach nur aufhören muss mit dem Trinken und dann alles gut wird. Das Gegenteil war der Fall, die Probleme fingen dann erst so richtig an. Bei den Freunden von den Anonymen Alkoholikern durfte ich lernen, dass es eine gute und eine schlechte Nachricht gibt, wenn man mit dem Alkohol aufhört. Die gute lautet: “Die Gefühle kommen wieder!”, und die schlechte: “Die Gefühle kommen wieder!”. Genau damit, mit meinen Gefühlen, hatte ich die letzten sieben Jahre zu tun. Und dabei hatte ich “Der Gefühlsstau” von Hans-Joachim Maaz gelesen. Ich dachte, ich wüsste alles. Ich wusste nichts, und gefühlt habe ich gleich gar nichts. Die ersten zwei Jahre meiner Abstinenz habe ich versucht, es irgendwie auszuhalten, alles mit mir alleine abzumachen. Am Ende hat meine Partnerin vieles abbekommen, völlig zu unrecht natürlich, das weiß ich jetzt. Alleine deswegen kann ich es nicht empfehlen. Jetzt werden es wie gesagt sieben Jahre, dass ich weg bin vom Alkohol. In dem Buch “Nüchtern” von Daniel Schreiber, das beste Buch, das ich zum Thema “Mit dem Trinken aufhören” gelesen habe, steht, dass es fünf Jahre braucht, bis man wieder man selber wird. Damals war ich gerade zwei Jahre trocken und dachte: “Verdammte Scheiße!”. Aber auch nach fünf Jahren war ich immer noch nicht ich selbst. Jetzt, nach sieben Jahren, bekomme ich so langsam eine Vorstellung davon, was es heißt, wieder man selbst zu sein. Auf meinem Weg begleitet haben mich meine Frau, Freunde, Bekannte, die Anonymen Alkoholiker und auch Bulgarien, das Land meines Vaters, das mich mehr und mehr zur Ruhe kommen ließ. Ich bin jetzt an dem Punkt, und deswegen überhaupt dieser Beitrag, dass ich nicht nur zu meiner Sucht, sondern auch zu meinen Depressionen stehen kann. Lange habe ich gar nicht gewusst, was ich habe. Mit der Zeit setzte sich die Erkenntnis bei mir durch, dass es Depressionen sind. Jetzt bin ich so weit, dass ich mich offen dazu bekennen kann. Ich weiß, viele haben Depressionen. Aber wer spricht schon darüber, und noch dazu offen? Wie ich an diesen Punkt gekommen bin, kann ich gar nicht genau sagen. Was den Alkohol angeht, weiß ich es: “Einfach nicht mehr trinken und zu den Meetings gehen!” Ich nehme keine Medikamente gegen die Depressionen, und ich will auch keine nehmen. Manchmal, wenn ich Kopfschmerzen habe, nehme ich Aspirin. Das einzige, was ich überhaupt nehme. Es gab Zeiten, da musste ich mich zum Atmen zwingen, damit ich es nicht vergesse. Daran muss ich denken, wenn ich meinen englischen Freund Jerry frage, wie es ihm geht, und er mir antwortet: “Still breathing!” Die schlimmsten Zeiten sind zum Glück vorbei, worüber ich sehr froh bin. Was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass ich erst richtig am Arsch sein musste, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich sage das auch, weil ich den Eindruck habe, dass es vielen so geht, insbesondere in der Heimat. Manchmal denke ich, dass es dem gesamten Land, also Deutschland, so geht. Wenn ich mich über meine Heimat lustig mache, dann ist das nicht nur zu Recht, wie ich finde, es ist immer auch ein tiefer Schmerz damit verbunden. Werden meine Landsleute auch wieder auf die Beinen kommen? Das mag sich dramatisch anhören, aber genau das fühle ich. So viel zu meinem Nervenkostüm. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel versprochen. Eine Sache fällt mir noch ein, die ich meinen Lesern aus den Schluchten mit auf den Weg geben möchten, und was ich auch bei AA lernen durfte: “Jedes Ding hat nicht seine zwei, sondern seine drei Seiten: Eine gute, eine schlechte … und eine witzige.” Mein Freund Jerry sagt immer: “We are lucky!” – Und er hat verdammt nochmal Recht!

One thought on “Mein Nervenkostüm

  1. Da fällt mir doch glatt ein, Lernen durch Schmerz… Doch recht viele kommen irgendwann einmal an den Punkt, wo es, zumindest so wie bisher, nicht weiter geht. Der eine ändert seine Gewohnheiten bzw. seinen Lebensstil, der andere leider nicht… Ich war ersterer, und Dank meiner Frau bin ich noch am Leben! – “König Alkohol” ist der Titel eines Buches von Jack London. Teufel Alkohol trifft es wohl eher. Von den anderen neumodischen Drogen mal ganz abgesehen. – Eine Depression ist eigentlich nix schlimmes, sofern man sich wieder fängt. Was doch recht vielen gelingt 💪 – Bevor jemand jedoch denkt er ist von einer Depression betroffen, sollte er mal schauen ob er nicht “nur” hochsensibel ist.

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