Wie schmeckt die Zukunft?

Diese mit Moos bewachsene Wand erinnert mich an eine ähnlich begrünte Wand im Restaurant “Ursprung” im Keller vom “Kulturkaufhaus” Dussmann in der Berliner Friedrichstraße. Laut Eigenwerbung befinden sich an dem 270 Quadratmeter großen vertikalen Garten mehr als 6.000 tropische Pflanzen. Aber nicht nur das. Während im Hintergrund ganzheitlich an der Zukunft des Food Services geforscht und gearbeitet wird, kommt die Zukunft auf den Teller. Darüber hinaus stellt man sich im Restaurant “Ursprung” täglich die Frage: Wie schmeckt die Zukunft? Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich es richtig verstanden habe, schmeckt die Zukunft nach Insekten. Was ich weiß, ist, dass obige mit Moos bewachsene Wand nicht zu einem Restaurant, sondern zur Männertoilette eines bulgarischen Bahnhofs gehört, die sich auch in einem Keller befindet. Um genau zu sein, ist es die Pullerwand. Man kann auf der Toilette auch sein großes Geschäft verrichten. Ich habe lange überlegt, das zu zeigen, was hinter meinem Rücken ist, und mich letztendlich dafür entschieden, einfach weil es die zum Himmel stinkende Realität ist. Oder mit anderen Worten: Man kommt nicht wegen der Toiletten nach Bulgarien, so wie man nicht wegen dem Wetter nach Berlin kommt. Apropos Berlin: Die neueste Entwicklung auf der dortigen Stadtautobahn hört sich für mich wie eine Nachricht aus einem Dritte-Welt-Land an, wozu Bulgarien in gewisser Weise gehört: Über Nacht stellt man plötzlich fest, dass eine wichtige Brücke nicht mehr trägt. Ich versuche es positiv zu sehen, denn man bekommt eine Vorstellung davon, wie die Toiletten demnächst auch in der Bundeshauptstadt aussehen könnten oder bereits aussehen. Und möglicherweise die Antwort auf die Frage: Wie schmeckt oder besser stinkt die Zukunft:

Wurzeln, Flügel und Wein

Gerade grabe ich diese Wurzel aus, was schon mehrere Tage in Anspruch nimmt. Das liegt zum Einen am Wetter. Derzeit regnet es viel. Zum Anderen auch an den Ziegelsteinen, die rings um die Wurzel vergraben sind. Unabhängig davon ist das Ausgraben der Wurzel eine anspruchsvolle und langwierige Angelegenheit. Immer wieder muss ich an Zahnärzte denken, die sich beim Ziehen manchen Zahnes schwer tun, weil dieser so lange Wurzeln hat. Ich muss auch an meine eigenen Wurzeln hier in Bulgarien denken, die kaum noch vorhanden sind, denn entweder liegen sie auf dem Friedhof oder sind in alle Winde verstreut. Goethe meinte, dass Kinder zwei Dinge von ihren Eltern bekommen sollten: Wurzeln und Flügel. Und ich frage mich, ob man ohne Wurzeln Flügel haben kann. Immerhin, das Ausgraben der Wurzel ist kein Selbstzweck. Das verbietet sich alleine deswegen, weil die Wurzel sich an einem Hang befindet. Damit dieser nicht irgendwann abgleitet, aber nicht nur deswegen, will ich dort Wein anpflanzen. Alte bulgarische Weinsorten, rot und weiß, die ich am Montag auf dem Flohmarkt in Montana für fünf Lewa (2,5€) das Stück gekauft habe.

Ungekreuzigte

Immer, wenn ich in Sofia bin, gehe ich zum Friseur, genauer zur Friseurin. Es ist, wenn man so will, ein Ritual. Meine Friseurin hat neulich den Preis erhöht. Kostete ein Männerhaarschnitt bisher 5,99 Lewa (drei Euro), kostet er jetzt 7,99 Lewa (vier Euro). Es ist aber nicht nur der immer noch günstige Preis, der denen auf dem Land entspricht, der mich immer zur selben Friseurin gehen lässt. Sie versteht einfach ihr Handwerk, was in Bulgarien nicht selbstverständlich ist. Die Fachkräfte sind alle im Ausland. Darüber hinaus ist sie witzig. Ein Hinweis darauf sind ihre Arbeitszeiten auf dem Schild unten rechts neben dem Fussball-Plakat. “Arbeitszeiten: von bis ich komme bis dass ich gehe, Pause: wenn ich nicht da bin.” Dazu ist die Frau Christin. Wie ich bereits erwähnte, ist es so eine Zeit, dass sich immer mehr Menschen dem Glauben zuwenden. Praktisch so wie nach 1989, zumindest in Bulgarien. Und da sind zwei Schilder ebenfalls rechts interessant. Auf dem einen steht “Christ ohne Kreuz”, was aber nicht ganz ernst gemeint ist. Denn auf dem anderen steht, dass es im Himmel keine Ungekreuzigte gibt. Den Begriff Ungekreuzigte kannte ich bisher nicht. Sogleich muss ich an Ungeimpfte denken, von denen es in Bulgarien genauso viele wie Geimpfte in Deutschland gibt (wenn nicht gar mehr), aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Linden- & Sauerkirschbäume vor einstürzenden Altbauten

Das Balkan-Gebirge teilt Bulgarien nicht nur in Nord- und Süd-Bulgarien, sondern ist auch eine Wetterscheide. Wir im Norden hatten heute Regen, Sofia auf der anderen Seite hatte keinen. Da das Dach von dem Haus gegenüber nicht mehr dicht ist, regnet es rein, und das schon einige Zeit. Die Bäume vor dem Haus sind wilde Sauerkirschen. Niemand hat sie gepflanzt, sie sind einfach so gewachsen. Am Anfang wusste ich nicht, was das für Bäume sind. Wenn sie demnächst anfangen zu blühen, ist das Haus kaum noch zu sehen. Die wilden Sauerkirschen schmecken sehr lecker. Letztes Jahr habe ich so einige Gläser Marmelade und Rote Grütze aus ihnen gemacht. Auf der anderen Seite und nicht im Bild ist ein weiteres Haus, von dem gerade das Dach eingestürzt ist. Vor ihm wachsen Lindenbäume, aus deren Blätter & Blüten sich wohlschmeckender Tee machen lässt.

Like a Complete Unknown

“A Complete Unknown”, auf Bulgarisch “напълно непознат” (napŭlno nepoznat), heißt der neue Film, ein “biographical motion picture” (kurz: “Biopic”), über Bob Dylan. Der Filmtitel ist dem bekannten Dylan Song “Like a Rolling Stone” entnommen. Der komplette Refrain heißt: “How does it feel, how does it feel? To be on your own, with no direction home – Like a complete unknown, like a rolling stone.” Der Film lief am 7. Februar in Bulgarien an, war aber nur wenige Wochen im Programm. Gestern lief er noch einmal im “Haus des Kinos”, auf Bulgarisch “Дом на киното” (Dom na kinoto), weswegen ich mich extra in die bulgarische Hauptstadt begeben habe, immerhin 100 Kilometer hin und auch wieder zurück, und ich muss sagen: Die Reise hat sich gelohnt!

Das Kino dürfte aus der sozialistische Zeit Bulgariens stammen. Dass seither viel gemacht wurde, konnte ich nicht erkennen, was mir das “Haus des Kinos” gleich sympathisch gemacht hat. Ein wenig lag es auch an der jungen Frau, die mir die Eintrittskarte für 14 Lewa (sieben Euro) verkaufte. Ihre Bemerkung auf “freie Platzwahl” nahm ich als Hinweis darauf, dass ich möglicherweise der einzige Besucher sein könnte. Dem war nicht so, am Ende waren knapp 50 Zuschauer im Saal. Ganz anders in Berlin, wie mir ein Berliner Freund und Filmemacher schrieb. Er hat den Film vor zwei Wochen im Delphi gesehen zusammen mit knapp 1.000 Leuten. Sein Fazit war dieses: “Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie die Menschen im Kino die Widerständler lieben, während sie im wirklichen Leben selber immer versuchen mit dem Arsch an die Wand zu kommen. Und das ihnen dieser Widerspruch nie in den Sinn kommt.” – Solche Überlegungen hatte ich im Kino in Sofia nicht. Im Gegenteil, ich habe an die anderen Zuschauer im Saal keinen Gedanken verschwendet. Ich war fasziniert von der Gradlinigkeit Bob Dylans, insbesondere am Anfang seiner Karriere, also in den Jahren von 1961 bis 65, um die es in dem Film geht. Er hat sich nicht beeindrucken lassen von anderen bekannten Musikern, beispielsweise von Joan Baez. Im Gegenteil, er hat ihre Eitelkeit und Selbstverliebheit bloßgestellt. Vermutlich auch in dem Song, der dem Film seinen Namen gibt, und den ich wörtlich nehme. Wie fühlt es sich an, plötzlich ganz alleine zu sein, ohne Rückfahrkarte in die Heimat, ein völlig Unbekannter? Die Antworten habe ich nicht bei Bob Dylan sondern bei Friedrich Nietzsche gefunden: “Schreien wirst du einst ‘Ich bin allein!’ und ‘Alles ist falsch!’“ – Vermutlich hat der Film wegen dieser Bloßstellung keinen einzigen Oscar gewonnen. Sehenswert ist er trotzdem. Ich würde sogar sagen, dass er ein Muss ist!

Chaos und Anarchie

Bisher stand eher das Positive an Bulgarien im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Es ist an der Zeit, sich den negativen Seiten zu widmen. Dazu muss man wissen, dass meine Ecke, der Nordwesten, die ärmste Region nicht nur Bulgariens, sondern ganz Europas ist. Im Rest des Landes sieht es meist etwas anders aus. Meinen Alltag muss man sich vorstellen, dass ich permanent von alten Menschen und von Verfall umgeben bin. Vieles erinnert an ein Land nach einem verlorenen Krieg. Das führt dazu, dass so einiges nicht funktioniert, wie es funktionieren soll. Ein Phänomen, dass sich auch in der Heimat immer mehr ausbreitet. Ich denke da zum Beispiel an die Berliner Stadtautobahn, wo offensichtlich auch ein Krieg verloren ging, und zwar der gegen den Verschleiß, und wo deswegen laut Berliner Zeitung jetzt “Chaos und ein bisschen Anarchie” herrschen.

In Bulgarien sind Chaos und Anarchie Alltag. Hier ein Beispiel. Bei meiner Rückfahrt gestern von Sofia, wo ich im Kino war, sah es am und im Zug zunächst so aus wie oben. Schmutz überall, nichts war irgendwie heil, ein Wunder, dass der Zug überhaupt noch fuhr. Keine fünf Kilometer weiter musste umgestiegen werden. Der Grund sind Bauarbeiten zwischen dem Hauptbahnhof und Sofia Nord. Von dort ging es vergleichsweise zivilisiert weiter. Nicht nur der Energiedrink und die kleine Wodka-Flasche wurde herausgeholt, sondern auch der Blumentopf. Nicht nur der Deutsche, sondern auch der Bulgare macht es sich gerne gemütlich, selbst und gerade mitten im Chaos. Definitiv etwas, was man vom Bulgaren lernen kann, wenn man nicht zuvor in eine Depression gefallen ist. Da muss man höllisch aufpassen, diese Gefahr lauert immer und überall.

Grenzerfahrungen mit Wolfgang Wodarg

Gestern habe ich mit Wolfgang Wodarg gesprochen, Autor des obigen Spiegel Bestsellers. Genau genommen habe ich über Bulgarien erzählt und Wolfgang Wodarg hat meine Ausführungen mit seinen Erfahrungen aus Griechenland ergänzt. Das war eine schöne Erfahrung, aber beileibe keine Grenzerfahrung. Grenzerfahrung ist der Titel der 240. Sitzung des Corona Ausschusses, in dessen Rahmen mein Gespräch mit Wolfgang Wodarg stattfand, das von Viviane Fischer moderiert wurde. Der Titel Grenzerfahrung wurde, so denke ich, aus zweierlei Gründen gewählt. Zum Einen weil sich Bulgarien an der Außengrenze der EU befindet. Im Mittelalter wurde ein solches Grenzgebiet auch Mark genannt, beispielsweise die Mark Brandenburg. Grenzgebiete sind immer anders, womit wir beim zweiten Punkt wären, den ich auch schon mehrfach hier erwähnt habe. In der heutigen Grenzmark Bulgarien ist vieles nicht nur anders als in Deutschland, sondern einiges sogar genau umgedreht. Was genau ich meine, erfährst Du aus dem, was ich Viviane Fische und Wolfgang Wodarg in der 240. Sitzung des Corona Ausschusses mit dem Titel Grenzerfahrung ab Minute 30 etwa gesagt habe. Du kannst einfach Vorspulen und musst auch kein Geld bezahlen. Es lohnt sich!