Leaving Berlin (029)
Dieses Büchlein von Raymond Unger über Gunnar Kaiser habe ich mit nach Bulgarien genommen. Ich habe es bereits mehrfach gelesen, erst von vorne nach hinten, danach von hinten nach vorne, dann wieder von vorne nach hinten usw. – Ihr kennt das, wenn einem ein Buch gefällt. Da ich den Autor Raymond Unger persönlich kenne, tue ich mich schwer, über das Buch zu schreiben, aber jetzt muss es raus. Raymond hat schon mehrere Bücher geschrieben, die ich alle gelesen habe. Das Buch über seinen Freund Gunnar ist sein reifstes Werk. Und das, obwohl es gerade mal 190 Seiten hat. Gleich vorweg: Man muss Gunar Kaiser nicht kennen, um dieses Buch zu lesen. Ich habe Gunnar auch nicht gekannt, zumindest nicht persönlich. Fast hätte ich ihn kennengelernt, und zwar letztes Jahr in Kalifornien. Gunnar war in Bishop, damit beginnt praktisch das Buch von Raymond, und ich war in Grass Valley. Bishop und Grass Valley sind 265 Meilen entfernt. Vorher war Gunnar am Lake Tahoe, was gerade mal 70 Meilen sind. Wir hatten auch e-mail Kontakt in dem Moment. Zu einem persönlichen Kennenlernen ist es aber nicht gekommen. Doch zurück zum Buch von Raymond. Wie gesagt, man muss Gunnar nicht kennen. Raymond hat das Buch auch für diejenigen geschrieben, “die den Namen Gunnar Kaiser das erste Mal hören”. Denn in dem Buch wird der gesellschaftliche Abstieg in ein “neues Normal” beschrieben, den viele Zeitgenossen immer noch nicht wahrhaben wollen, allen voran diejenigen, die den “großen Aufklärer” Gunnar Kaiser nicht kennen. Raymond hat das Buch aber auch für Gunnars Fans geschrieben. Die dürften sich allerdings durch Raymonds Buch provoziert fühlen. Beispielsweise dadurch, dass ihr Held am Ende seines Lebens das Beten anfing. Mich hat das Buch an erster Stelle traurig gemacht. Traurig gemacht hat es mich deswegen, weil Raymond das über seinen Freund Gunnar bestätigt, was ich bereits geahnt hatte. Geahnt hatte ich es aufgrund der Frage: “Habe ich genug getan?”, Titel des Buches von Raymond und auch eines von Gunnars Podcasts. Meine traurige Vermutung hat Raymond durch diesen Satz bestätigt: “Gunnar konnte den Schlüssel zu einem lebendigen Leben nicht finden.” – Unabhängig davon, ob sie Gunnar kannten oder nicht, geht es vielen Menschen in der Heimat genauso wie Gunnar. Ich schreibe das auch aus eigener Erfahrung. Antriebslosigkeit, Erschöpfungszustände bis hin zu Depressionen sind auch mir nicht fremd – im Gegenteil. Da ich all dies seit fast sechs Jahren nicht mehr mit Alkohol oder anderen Drogen betäube, muss ich die damit verbundenen Gefühle alle aushalten. Und das Tag für Tag aufs Neue. Zu diesen Gefühlen gehört auch die Trauer um Gunnar, der bald nach seiner Rückkehr aus Amerika mit nur 47 Jahren an Krebs versterben sollte, auch wenn ich ihn nicht persönlich kennengelernt habe.
Foto&Text TaxiBerlin