Bericht aus Amerika (047) – “Mein erster Tod”
Einen Toten habe ich schon gesehen. Beim Sterben dabei war ich noch nicht. Das hat sich nun in Amerika geändert. Vor einer Woche ist meine Schwiegermutter verstorben. Meine Schwiegermutter war eine sehr aufgeschlossene, extrovertierte und kontaktfreudige Person. Noch im letzten Frühjahr hat sie mich in Bulgarien besucht, saßen wir gemeinsam bei meiner Nachbarin Oma Borislawa am Küchentisch. Einmal haben wir in Berlin bei einem Freund sogar zusammen einen Joint geraucht. Die meisten Menschen kannte meine Schwiegermutter aber in Amerika. Alle sind sie vor ihrem Tod noch einmal vorbeigekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Am Ende haben wir uns mehr um die zahlreichen Besucher als um sie kümmern müssen. Dabei ging es ihr gar nicht gut. Im Frühjahr ist praktisch über Nacht aus der einst “stabilen Frau”, wie man in Bulgarien sagt, ein Pflegefall geworden. Ob dies mit der neuartigen Impfung zusammenhängt (meine Schwiegermutter hatte sich mehrfach gegen Corona impfen lassen), kann keiner sagen, aber auch niemand ausschließen. – Auf den kanadischen Film “Die Invasion der Barbaren” komme ich aus verschiedenen Gründen. Der wichtigste ist der, dass meine Schwiegermutter genau so starb, wie es in dem Film dargestellt ist. Also im Kreise der Familie und Freunde, an einem tollen Ort in der Natur und selbstbestimmt. Vieles, was im Film zu sehen ist, hat auch sie bei ihrer Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser der Vereinigten Staaten erleben müssen. Dass meine Schwiegermutter nicht wohlhabend ist und auch keine reiche Tochter hat (einen reichen Schwiegersohn schon gar nicht), das unterscheidet sie von dem Hauptdarsteller im Film, für dessen Sohn Geld keine Rolle spielt, mit dem er aus den Vereinigten Staaten ein Drittweltland macht. Deswegen konnte meine Schwiegermutter sich auch keine bulgarische Kranschwester leisten, die, obwohl sie nur einen kurzen Auftritt hat im Film, im Trailer nicht fehlen darf. – Einen Menschen beim Sterben zu begleiten, war wie gesagt neu für mich. Das schlimmste war das Wiedersehen, ich hatte meine Schwiegermutter zuletzt in Bulgarien als vitale Frau erlebt. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, wird alles andere normal. Manchmal leidet man mehr als die Person selbst. Das hatte ich bei Nietzsche gelesen und kann es bestätigen. Wenn ich etwas gelernt habe, dann dies: das schlimmste, was einem leidenden Menschen passieren kann, ist, das man ihn in seinem Leid alleine lässt. Den Tod verstehe ich immer noch nicht. Immerhin, ich habe realisiert, dass der Tod etwas Normales ist und zum Leben dazugehört. Mein nicht vorhandener Glaube an das ewige Leben durch Schwabs Transhumanismus ist in dem Sinne größer geworden, dass er weiter im Minus vorangeschritten ist.
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Text TaxiBerlin