Bericht aus Bulgarien (382) – “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”

Ich im Bulgarenknast

Als halber Deutscher, der dazu noch einen fremdklingenden Namen hat, darf ich meine Landsleute als das ängstliche Volk auf der Welt bezeichnen. Aber auch wenn ich dies darf, heißt das nicht, dass es auch OK ist. Das ist es nicht, und deswegen möchte ich meine Landsleute auch nicht so ins neue Jahr verabschieden. Bevor ich zu meinen Ideen und Vorschlägen für sie komme, kurz etwas zum obigen Foto.

Es ist jetzt einige Jahre her, ich war gerade mal 17, dass ich mich im Bulgarenknast wiederfand. Wie es dazu kam, soll an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Nur soviel: Es hatte auch etwas mit dem Eisernen Vorhang zu tun, der damals noch existierte. Obwohl ich insgesamt drei bulgarische Gefängnisse kennenlernen durfte und im ersten sogar noch meinen Fotoapparat bei mir hatte, so dass obige Aufnahme entstehen konnte, war es keine schöne Erfahrung. So dachte ich lange Zeit. Diese Ansicht hat sich hier in Bulgarien geändert, was auch an Henry David Thoreau liegt, der sich seinerzeit wie ich in den Wald zurückgezogen hat, um darüber zu schreiben. Thoreau hat auch über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam geschrieben und in diesem Zusammenhang folgendes gesagt, was mich in Sachen Gefängnis umdenken ließ: “In einem Staat, der seine Bürger unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der einzig wahre Ort für einen gerechten Mann.”

Nun zu meiner These, dass die Deutschen heute das ängstlichste Volk auf der Welt sind. Auch wenn dies für mich eine Tatsache ist, insbesondere weil ich den direkten Vergleich zu Bulgarien und den Bulgaren habe, so ist diese Tatsache damit nicht in Stein gemeißelt – ganz im Gegenteil. Einen Ausweg hat uns Immanuel Kant mit der Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, eröffnet. Einer, der diesen Weg gegangen ist, war Friedrich Nietzsche, der sich dafür ähnlich wie Thoreau aber nicht nur in den Wald, sondern ganz und gar ins Hochgebirge zurückgezogen hat, und da vor allem in die Schweizer Berge. Auch wenn ich immer von den Schluchten des Balkans schreibe, so meine ich damit eigentlich die bulgarischen Gebirge, die der von mir herausgegebene Aleko Konstantinow als die bulgarische Schweiz bezeichnet hat. Diese bulgarische Schweiz bietet nicht nur den nötigen Abstand, um die Dinge in der Heimat klarer zu sehen, sondern auch die nötige Freiheit, die es braucht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

So ist folgender Text entstanden, mit dem ich lange schwanger gegangen bin, und den ich nun meinen Landsleuten in der Heimat mit auf den Weg ins neue Jahr 2023 geben möchte. Der Titel war ursprünglich “Von Kundera zu Konfuzius”, der aber, da ich am Ende auf Nietzsche zurückgekommen ist, obsolet geworden ist. Aber am besten du liest selbst:


Von Kundera zu Konfuzius

Neulich nahm ich den berühmten Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ des bekannten tschechischen Autors Milan Kundera aus dem Jahr 1984 erneut in die Hand, der folgendermaßen beginnt: „Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen! Was besagt dieser widersinnige Mythos?“ – Fast möchte man fragen: Was besagt diese widersinnige Frage? Und zwar weil mit der ewigen Wiederkehr eine Idee, ein Schema gemeint ist, und eben nicht, dass sich alles irgendwann genauso wiederholen wird, wie man es schon einmal erlebt hat.

Da schon Kundera offensichtlich eine tiefe Erkenntnis Nietzsches nicht mehr verstanden hatte, fragte ich mich, ob wir nicht grundsätzlich tiefere Wahrheiten in älteren Büchern finden, ganz und gar „je älter, desto tiefer“ gilt? Auch weil es eben nicht so ist, dass es jeden Tag eine neue Wahrheit gibt, nur weil jeden Tag etwas Neues verkauft werden muss, und wenn es „nur“ neue Wahrheiten sind. Jedenfalls hatte ich Nietzsche wieder im Kopf, von dem Camus meinte, dass es in der Geistesgeschichte, mit Ausnahme von Marx, keinen vergleichbaren Fall gäbe, der dem Nietzsches an Abenteuerlichkeit gleichkäme, und man niemals das Unrecht wieder gutmachen könne, das man ihm angetan habe.

Bei meiner Recherche kam ich immer mehr zu dem Schluss, dass in der Vergangenheit möglicherweise nicht nur Nietzsche bereits tiefere Wahrheiten gefunden hatte über Phänomene und Sachverhalte, die er selbst nicht kannte, nicht gekannt haben konnte. Ich will Beispiele anbringen, um es klarer zu machen, und auch damit sich ein jeder sein eigenes Urteil bilden kann. Beispielsweise diese Idee Nietzsches, der am liebsten alleine und beim Wandern im Hochgebirge seinen Gedanken nachging, die vielleicht das Phänomen erklärt, das wir als „soziale Netzwerke“ (oder besser „asoziale Netzwerke“?) mit all ihren „followern“, virtuellen „friends“ und „likes“ kennen: „Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger? – Suche Nullen!“

Dann diese Aussage Nietzsches über den Irrsinn, die eventuell auch auf den Wahnsinn unserer Tage in Gestalt von Coronapanik, Maskenwahn, Impfpropaganda und Kriegslüsternheit zutrifft: „Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“ Oder dieser Satz, der auf das übertragen, was uns seit einiger Zeit als DIE Wissenschaft verkauft wird, möglicherweise aktueller denn je ist: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Aber auch ein Zeitgenosse Nietzsches aus dem Vereinigten Königreich soll zu Wort kommen. Von Oscar Wilde, der im selben Jahr wie Friedrich Nietzsche (nämlich 1900) starb, ist folgender Satz überliefert, der unter Umständen auch auf alle „Verschwörungstheoretiker“ und „Querdenker“ zutrifft: „Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.“

Vermutlich hat Wilde auch schon den Philanthropen Bill Gates gekannt, so wie Nietzsche eventuell das „soziale Netzwerk“ eines Mark Zuckerbergs bereits kannte, als er schrieb: „Philanthropen verlieren jedes Gefühl für Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechender Charakterzug.“ Selbst die Philanthropie eines Klaus Schwab war Oscar Wilde möglicherweise nicht unbekannt, als er meinte: „Die Philanthropie ist einfach die Zuflucht solcher Leute geworden, die ihre Mitmenschen zu belästigen wünschen.“

Täglich neue Wahrheiten mögen gut fürs Geschäft sein, lassen aber alleine durch ihre Sprachverwirrung Werke nicht gedeihen (sind vielleicht der Flughafen BER und die letzten Wahlen in Berlin gemeint?) und in der Folge die Sitten und Künste verderben. Das meinte zumindest Konfuzius. Ob dessen folgende Aussage und die vorherigen von Nietzsche und Wilde immer noch aktuell sind, das möge jeder für sich entscheiden. Genauso wie die Frage, inwieweit Einsichten in tiefere Wahrheiten heute überhaupt möglich sind, wenn selbst ein Kundera damit schon seine Schwierigkeiten hatte.

„Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste. Darum achte man darauf, dass die Worte stimmen.“

Am Ende möchte ich noch einmal auf Nietzsche zurückkommen. Wie immer mehr Menschen in diesen Tagen meldetе er bereits seinerzeit Zweifel an der Idee des stetigen Fortschritts an, und zwar mit diesen Worten: “Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der ‘Fortschritt’ ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.”

Wer dies auch meint, findet sich rasch im Abseits wieder, obwohl wir doch in einer Demokratie leben, in der ein jeder alles sagen darf, was Nietzsche so erklärte: „Der Parlamentarismus, das heißt die öffentliche Erlaubnis, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen vielen ein, welche gern selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Herde eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und beiseite tritt, hat immer die ganze Herde gegen sich.“

PS: Habe gerade eine e-mail erhalten, in der mich ein Freund darüber informiert, dass er am Montag den 2. Januar in Zossen seine Verhandlung hat, weil er im Januar in Bad Belzig spazieren gegangen war. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Der Umstand, dass ein ordentliches deutsches Gericht nichts besseres zu tun hat, als am ersten Arbeitstag eines neuen Jahres eine solche Banalität zu verhandeln, lässt mich Ungutes erwarten. Ich drücke meinem Freund die Daumen für seinen Prozess und wünsche weiterhin erholsame Spaziergänge.

Foto&Text RumenMilkow

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