Bericht aus Bulgarien (317) – „Gestern in Sofia“

Konferenzsaal Nr. 1 im Herzen Sofias

Die gestrige Veranstaltung mit David Engels in Sofia war mit 50 Menschen, darunter viele junge, die auch deutsch sprachen, gut besucht. Dass sie deutsch sprachen, lag daran, dass sie einige Zeit in Deutschland oder Österreich gelebt haben, manche viele Jahre, bevor sie aktuell nach Bulgarien zurückgekehrt sind. Das Leben in den beiden deutschsprachigen Ländern war ihnen unerträglich geworden, so wie mir mein Leben in Berlin unerträglich geworden ist, weswegen sie in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind. Einer von ihnen hatte sogar meinen ersten Artikel „Bulgarien – die große Freiheit“ gelesen. Da war er gerade einen Monat zurück gewesen, nachdem er 13 Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hat. Eine Rückkehr nach Bulgarien war nicht geplant gewesen, aber er hat keinen anderen Ausweg für sich gesehen. Mein Beitrag hätte ihm aus dem Herzen gesprochen, sagte er mir, was ein tolles Kompliment für mich war. So wie er waren auch viele andere der Meinung, Deutschland und Österreich besser zu verstehen, als die meisten Deutschen und die Österreicher selbst, und das ist auch meine Einschätzung. Beide, sowohl der Deutsche als auch der Österreicher, sind so sehr mit ihrer Angst, ihrer Kontrollillusion und der sich daraus ergebenen Depression beschäftigt, dass sie den Blick für das Große und Ganze verloren haben. Vor allem ist es die Angst vor Veränderungen, obwohl sie doch gerade das Wichtigste im Leben sind, und dem Verlassen ihrer Komfortzone, was als nächsten ansteht. So denken nicht nur die meisten Bulgaren und ich, sondern auch der aus Belgien stammende Historiker David Engels, der sich schon 2018 nach Polen in Sicherheit gebracht hat, und um dessen beiden Bücher „Was tun?“ und „Renovatio Europae“ es ging. Beide sind gerade ins Bulgarische übersetzt worden und verkaufen sich nach Angaben des Verlegers, der gestern ebenfalls anwesend war, ausgesprochen gut. Gestern hatte praktisch jeder Besucher der Veranstaltung eins von beiden unterm Arm, viele auch beide. Anfang Oktober wird „Angstgesellschaft“ von Hans-Joachim Maaz auf Bulgarisch erscheinen, ich habe gestern schon das Cover gesehen. Ich bin gespannt, wie dieses Buch ankommt, und ob Hans-Joachim Maaz auch nach Bulgarien kommt und Fragen seiner Leser beantwortet. Ob eine solche Lesung an einem so zentralen Ort wie in Sofia beispielsweise auch in Berlin möglich wäre, war eine von vielen Fragen, die gestern gestellt wurde. Ich glaube, eher nicht. Wenn einer meiner Leser es besser weiß, möge er sich bitte melden. Vielen Dank!

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (316) – „Ein Land, wo Trauben, Grundstücke und Häuser auf der Straße liegen“

Mann muss sie nur auflesen

Als ich noch Taxi gefahren bin in Berlin, lag das Geld auf der Straße und auch die ein oder andere leere Flasche auf zwei Beinen, die ich aufgesammelt habe. In Bulgarien liegt das Geld definitiv nicht auf der Straße, dafür aber Weintrauben. Nicht nur viele Häuser sind verlassen, es soll in Bulgarien 592 Dörfer geben, die ganz verlassen sind oder nur noch einen Einwohner haben, sondern es gibt dort oft auch Wein, dessen Lese jetzt ansteht. Meine Trauben sind vom Nachgrundstück, auf dem das Haus gerade zusammenfällt. Es ist nicht mehr zu retten, dafür aber der Wein, der wie wild wächst und immer noch Trauben trägt, obwohl es viele Jahre her ist, dass sich jemand um ihn gekümmert hat. Ich habe Traubensaft aus des Nachbarn Wein gemacht, was eine Heidenarbeit war, die sich aber gelohnt hat. Die drei Liter Traubenwein schmecken wie aus einer anderen Welt. So etwas kann man nicht kaufen, mit keinem Geld der Welt. Ich trinke ihn aus kleinen Schnapsgläsern, so gehaltvoll ist er. Was das Nachbargrundstück angeht, so kann man offiziell nichts machen, weil die Erben auf der ganzen Welt verstreut sind und es auch keine gültigen Dokumente gibt, um es zu besitzen. Ich weiß das von meinem Bürgermeister, der meint, ich solle es einfach benutzen und mich um den Wein kümmern, für das Haus ist es bereits zu spät, und genau das habe ich als halber Deutscher gemacht.  –  Ich habe getan, was mein Bürgermeister mir gesagt hat.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (315) – „David Engels in Sofia“

 

Über der antiken Stadt Serdika

Eigentlich wollte ich morgen nach Sofia fahren, aber jetzt lese ist, was Juli Zeh über Städter sagt, und zwar dass ihre Überheblichkeit ein absoluter Fehler ist. Ich kann das bestätigen, sie ging mir in Berlin schon lange auf die Nerven, und auch in Sofia findet man diese Überheblichkeit. Trotzdem werde ich wohl in die bulgarische Hauptstadt fahren, denn David Engels wird morgen dort darüber reden, wie man unter den Bedingungen der beispiellosen wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt der Wertekrise überlebt. Heute diskutiert er dieses Thema bereits mit seinen Zuhörern in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Wie in Plovdiv, so findet auch in Sofia die Veranstaltung an einem zentralen Ort statt, und zwar im Konferenzsaal Nr. 1 des antiken Komplexes Serdika, wie die Römer die bulgarische Hauptstadt nannten. Dieser Ausgrabungskomplex befindet sich genau unter der Glaskuppel, die auf obigem Bild zu sehen ist. Der belgische Historiker David Engels, der auch deutsch spricht, weswegen die Veranstaltung zuallererst in deutsch stattfindet, ist dafür extra aus Polen angereist, wo er sich in Sicherheit gebracht hat, so wie ich mich in Bulgarien in Sicherheit gebracht habe. Ob er dort in der Stadt oder auf dem Dorf wohnt, ist nicht bekannt. Es wäre eine Frage, die man ihm stellen könnte. Mir persönlich ist sie nicht so wichtig. Denn mir ist schon lange klar, dass nicht nur die Überheblichkeit der Städter ein großer Fehler ist, sondern dass diese auch der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass die Anzahl der ernsthaft psychisch Kranken in den Städten der auf dem Land um ein Vielfaches übersteigt.

Foto&Text TaxiBerlin

Ein Taxi mit Uber-Werbung ist wie eine Kuh mit Schlachthof-Werbung

Taxi mit Uber-Werbung in Berlin
Gerade erreicht mich eine e-mail von Steven Hill, dem Wirtschaftsjournalisten aus dem Silicon Valley, der im April 2018 Gast an meinem Runden Tisch zum Thema „Uber“ war, weswegen ich ihn auch in meinem kürzlich auf Multipolar erschienen Artikel „Wir haben den Menschen eine Lüge verkauft“ erwähne. Ich hatte Steven den Link geschickt, und er hat mir nun freundlicherweise wie folgt geantwortet:
Hello Rumen, so nice to hear from you. I greet you with the warmest of regards. I certainly remember our brief time together in your studio. It was a great pleasure for me to meet you and your colleagues, as well as Layne. I enjoyed the sense of camaraderie among all of you, and feel much gratitude at how you extended your hospitality to me, a stranger. – Thank you for the link to your article. I used an online translation engine to translate it, since I don’t speak German. It’s an excellent article, you did a marvelous job of summarizing the poison of the Uber business model. Your title says it all: „We sold people a lie.“ That is the truth, and it’s great that you are „speaking truth to power.“
Ich habe mich sehr über die warmen Worte von Steven Hill gefreut. Auch er arbeitet sich weiterhin an Firmen wie Uber und Airbnb ab. Ich bin also kein Einzelfall. Im Gegenteil, ich bin einer von vielen, die wegen Firmen aus den USA ihre Arbeit verloren haben und täglich werden es mehr. Persönlich wünsche ich es niemandem, dass er das durchmacht, was ich durchgemacht habe. Andererseits erscheint es mir aber auch alternativlos (hier trifft dieses unmögliche Wort möglicherweise wirklich zu) zu sein. So deute ich zumindest obige Uber-Werbung auf einem Berliner Taxi (die Aufnahme ist im Juni entstanden), bei der ich mir eine Herde Kühe vorstelle, auf deren Fell Werbung für den Schlachthof eingebrannt ist.
Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (314) – „Tanzen lernen“

Gestern bei uns im Dorf
Gestern war unsere Dorfkimes, die auf Bulgarisch „Sbor“ heißt, was von „sich versammeln“ kommt. Viele sind dafür aus Sofia und manche auch aus dem Ausland angereist, um sich in ihrem Dorf zu versammeln, darunter auch viele Kinder. Auch ich bin auf dem Dorf groß geworden, wenn auch nicht in Bulgarien. Aber auch als Kind war ich schon in Bulgarien und war immer fasziniert gewesen zu sehen, wie schnell sich die Menschen auf der Tanzfläche einfinden, alt und jung. Ganz anders als in einer Disco oder einem Club in Berlin, wo Menschen vor allem eines sein wollen: cool. Cool, also kalt, praktisch tot, das sind die Menschen hier nicht und wollen es auch nicht sein. Als Kind wollte ich immer mittanzen beim traditionellen „Horo“, dem bulgarischen Ringelpietz mit anfassen. Bis heute kann ich es nicht wirklich, obwohl es mir jedesmal in den Beinen juckt. Was ich gestern gelernt habe, ist, nicht auf die Füße zu schauen, um die Schritte zu begreifen, sondern auf die Köpfe der anderen, und wie sie diesen bewegen. An der Kopfbewegung kann man die Schritte ablesen. Auch das etwas, was umgedreht ist.  –  Aber es funktioniert.
Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (313) – „An alle dummen Deutschen“

Gratis Granate

Waffen sind gerade im Angebot, nicht nur bei Uncle Sam aus Amerika. In Bulgarien gibt’s zur guten alten AK-74 die Handgranate gratis dazu. In Deutschland werde die Schreie nach neuen schweren Waffen für die Ukraine immer lauter. Ausgerechnet der Deutsche, der nicht mal weiß, was schwere Waffen sind! Der letzte Krieg und mit ihm „Nie wieder Krieg!“ liegt lange zurück – für viele zu lange. Sie wollen’s wieder wissen, wie Krieg sich anfühlt, diese Kriegstreiber. Doch, nur wer bereit ist, selber in den Krieg zu ziehen, darf Waffen für andere fordern. Alles andere sind Maulhelden. Deutschland ist voll von ihnen, diesen Maulhelden. Noch nie selbst eine Waffe in der Hand gehabt, aber anderen eine Waffe in die Hand drücken wollen. Nimm vorher wenigsten eine Kalaschnikow aus Plastik in die Hand, du dummer Deutscher. Und vergiss nicht, das passende T-Shirt dazu anzuziehen.

Peace
Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (312) – „Buchvorstellung gestern – heute Kirmes“

Radostina Panjova singt ab 19 Uhr / rechts die Ankündigung der Buchvorstellung

Bei mir im Dorf ist einiges los dieses Wochenende. Gestern wurde ein Buch über die Geschichte unseres Dorfes vorgestellt. Ich komme auch vor in dem Buch, genauer gesagt meine Eselwanderung mit einer Eselin aus unserem Dorf quer durch Bulgarien. Und natürlich die beiden Bücher, die ich nach meiner Wanderung beim Wieser-Verlag herausgegeben habe. Die Autorin, sie kommt natürlich auch aus unserem Dorf, hat mich Ende letzten Jahres dafür interviewt. Ich bin der vorletzte, der im Buch erwähnt wird. Nach mir kommt nur noch ein Lehrer. Dafür firmieren wir unter der Überschrift „Bekannte Persönlichkeiten“. Die Buchvorstellung fand wieder in unserem Kino-Saal statt, der mit fast 100 Menschen gut gefüllt war. Am Ende hatte jeder mindestens ein Buch in der Hand, manche trugen sogar 10 unterm Arm nach hause. Der Preis ist 14 Lewa, was sieben Euro sind. Der Verleger war auch anwesend und hat unser Dorf, das eine eigene Mineralquelle hat, als eines der schönsten Dörfer Bulgariens bezeichnet. Was den Ausblick angeht, stimmt das auf jeden Fall. Unser Blick auf die Berge ist phänomenal. Dazu die klare Luft und die Ruhe. Diese wird heute unterbrochen von dem Auftritt von Radostina Panjova. Ab 19 Uhr singt sie Downtown, da wo der Brunnen mit dem Mineralwasser ist. Sie ist der Star unseres Dorf-Kirmes, der auf bulgarisch „Sbor“ heißt. Der „Sbor“ ist das wichtigste Fest im Jahr, und weil er letztes ausgefallen ist, sind dieses Jahr alle ganz heiß darauf, endlich mal wieder gemeinsam um den Brunnen zu tanzen. Die Polizei wird unser Dorf wieder weiträumig absperren, weil die Durchfahrt wegen den Tänzern nicht möglich ist. Die meisten Insassen der nicht weiter kommenden Fahrzeugen gesellen sich zu den Tanzenden dazu. So ist es Tradition. Einige Einwohner unseres Dorfes sind extra aus Sofia und manche sogar aus dem Ausland zum „Sbor“ angereist. Dorthin sind sie gegangen, mussten sie gehen, um ein Auskommen zu haben, von dem sie leben können. Im Dorf selber leben vor allem alte Menschen. Sie können nicht weggehen, denn dazu fehlen ihnen die Mittel. Außerdem braucht sie niemand – nirgendwo. Und das, obwohl sie auf der Tanzfläche, was unsere Durchfahrtstraße ist, immer die ersten sind, allen voran die alten Frauen. Sie sind sozusagen die Eintänzer, zu denen sich sogleich die Jungen und die Kinder gesellen. Beim Tanzen fassen sich die Menschen an, so verlangt es der „Horo“, der klassische bulgarische Reigen. Wo hat man so etwas in Deutschland gesehen, dass alt und jung gemeinsam tanzt und sich dabei auch noch anfasst? Heute schon gar nicht mehr, aber vorm „Social Distancing“ war es auch schon so. Vom bulgarischen Standpunkt aus gesehen, wäre „Social Distancing“ für Menschen im Westen gar nicht nötig gewesen. Jetzt haben sie immerhin einen Begriff dafür und auch eine Theorie, die ihnen sagt, dass sie mal wieder alles richtig machen und vor allem die Guten sind – vielleicht das wichtigste überhaupt. Menschen in Bulgarien, das ist meine Beobachtung, brauchen eine solche Bestätigung nicht, schon gar nicht auf dem Dorf. Sie sind einfach, wie sie sind, und das ist auch gut so.

Fotos&Text TaxiBerlin