Flohmarkt-Studien (Teil Eins)

Früher, als ich noch Taxi gefahren bin, war die Straße meine Universität. Heute ist der Flohmarkt der Ort für meine soziologischen Studien. Alleine vom Optischen her bekommt man viel geboten auf dem Flohmarkt. Meist ist es das Kleine Kammerspiel, manchmal aber auch das Große Theater, und immer ist es mehr als in Bulgarien. Angefangen von allen möglichen und unmöglichen Tattoos über in nächtelangen Nagel-Sudio-Sitzungen bearbeiteten Fuß- und Fingernägeln, aufwendigen Barber- aber vor allem Barbie-Shop-Frisuren bis hin zu nicht vorhandenen Brust- und Beinkleidern. Die Stadt ist voll von Menschen, die nicht gesehen wurde, und deswegen unbedingt gesehen werden wollen. Das alles war nichts gegen DAS Highlight in Sachen Buch. Eine junge Frau interessierte sich für die beiden obigen Bände Hesse-Erzählungen, die wirklich schön sind. Nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich. Immerhin enthalten sie auch „Siddartha“, eine indische Dichtung und zugleich eine der schönsten Erzählungen Hesses. Am Ende entschied sich die Frau gegen den Kauf, weil – und jetzt bitte festhalten! – die Bücher nicht zu ihrer Einrichtung passen. Mein Argument, dass sie dafür zu ihrer Jacke passen würden – diese war dunkelgrün – überzeugte sie nicht. Mein Fazit: Den Menschen geht’s immer noch zu gut … leider.

Flohmarkt frei

Der Flohmarkt sitzt in Geiselhaft. Nicht wegen der Hitze, sondern wegen dem Regen. Der ist gar nicht gut für Bücher. Trotzdem besuche ich heute den Flohmarkt. Ich bin so frei. Was die Bücher angeht: No Risk – No Fun!

Desinformation ist Information

„Schwurbler“ in kyrillischen Lettern. – Die Buchstaben haben die Bulgaren erfunden. Das Wort gibt es im Bulgarischen nicht!

Ich lese gerade diesen Bericht vom Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) über die heutige Friedensdemo, auf der ich war, und sogleich stelle ich mir die Frage, auf welcher Veranstaltung der RBB war? Jedenfalls hat die Berichterstattung so rein gar nichts mit dem zu tun, was ich gesehen habe. Zum Glück bin ich in die Schule des Bulgaren gegangen, wo JA NEIN ist und NEIN JA, SCHWARZ WEISS und WEISS SCHWARZ. Nur ein Beispiel, damit klar wird, was ich meine. Der RBB schreibt: Die Polizei sprach am Samstagnachmittag von weniger als 900 Teilnehmenden. Nach Schätzung eines rbb-Reporters waren es in der Spitze rund 1.800 Menschen. Offensichtlich sind selbst dem RBB die Zahlen der Polizei zu niedrig. Als erfahrener Protestberichterstatter mit zahlreichen Auslandseinsätzen sage ich, dass 20.000 bis 25.000 Menschen für Frieden auf der Straße waren, was eine eher vorsichtige Schätzung ist. Gegendemonstranten gab es 300 bis 400. Ein Kollege, eher „Kollege“, fiel mir auf, weil er Demonstrationsteilnehmer fragte, was sie davon halten würden, dass es auf der Veranstaltung Teilnehmer gibt, die ein Shirt der AfD tragen. Das witzige an der Frage war, dass er sie direkt vor dem Reichstag stellte, also dem Parlament, in dem bekanntlich die AfD als zweitstärkste Kraft vertreten ist. Witzig waren auch viele Schilder, von denen ich einige zeigen möchte, Bilder sagen bekanntlich mehr als tausend Worte:

Außer einer Hundematte nichts gewesen

Vorgestern wurde Michael Ballweg freigesprochen. Außer einer Hundematte und einem Parfümflakon für den „kuriose Kleinbetrag von 19,53 Euro“ war nichts gewesen, sieht man von den neun Monaten Untersuchungshaft und einer Vernehmung mit Handschellen ab. So sieht „unsere Demokratie“ im „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ aus. Wer Michael Ballweg nicht kennt, solche Zeitgenossen soll es geben, hat morgen die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Ob persönlich, das entzieht sich meiner Kenntnis. Mit Sicherheit aber die Bewegung, die er ins Leben gerufen hat. Ich weiß nicht, wie es hierzulande gerade um die Kontaktschuld bestellt ist. Offiziell gibt es sie wohl nicht, was aber nichts zu bedeuten hat. Was ich weiß, ist, dass es sie in Bulgarien nicht gibt. Ob Du zu der Demo „Für ein Leben in Frieden und Freiheit“ heute um 13 Uhr am Brandenburger Tor gehst, das kannst nur Du entscheiden. Fakt ist: „diese Versammlung wurde von Querdenken-30 angemeldet“. Ich werde jedenfalls hingehen, schließlich habe ich schon die ersten vier Demos verpasst. – Da war ich in Bulgarien.

„Freispruch minus 19,53 Euro“

Wer’s glaubt …

Die Michael-Ballweg-Geschichte erinnert mich an die Hartmut-Ferworn-Geschichte, bloß anders rum. Hartmut Ferworn war Koch der Mitropa, einem Serviceunternehmen der Deutschen Reichsbahn in der DDR. Bei seinem Aufenthalt in Budapest (der Hauptstadt von Ungarn!) im September ’89 wurde er mittels einer Mentholzigarette betäubt. Wieder aufgewacht, saß er in einem Reisebus zur westdeutschen Botschaft nach Wien. Ferworn behauptete in einem Interview mit dem „Neuen Deutschland“, dass er von „kaltblütigen Menschenhändlern“ gekidnappt wurde, die damit dem Ansehen der DDR schaden wollen. Ferworns Geschichte ist als „Menthol-Zigaretten-Story“ bekannt. Unter welchem Namen die Michael-Ballweg-Story in die Geschichte eingehen wird, ist noch nicht bekannt. Eine Möglichkeit ist „Freispruch minus 19,53 Euro“. Was bei Ferworn die Mentholzigarette war, ist bei Ballweg die Behauptung der Staatsanwaltschaft, dass es sich um keinen politischen Prozess gehandelt hätte. Ich gehe davon aus, dass das genauso wenige glauben wie damals die Mentholzigarette.

„Wer Nazi ist, bestimme ich.“

„Wer Nazi ist, bestimme ich.“ ist nicht von mir, sondern aus der taz. Zugegeben, es ist einige Zeit her. Genau war es das Jahr 1991. Ein aktuelles Graffito in meiner Straße fordert mich nun dazu auf, jeden Tag Nazis zu boxen. Die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, fragt sich gerade, wie „unser“ Widerstand gegen Nazis aussieht? Ob er nur intellektuell wäre, oder man „auch“ zu den Waffen greifen solle? Angesichts des Intellekts derjenigen, die der Meinung sind, dass sie bestimmen könnten, wer Nazi ist oder nicht, befürchte ich das Schlimmste.