Das Ticket für die Titanic

Der Euro

Es war heute ganz schön was los in Sofia, aber nicht nur dort. Auch in anderen bulgarischen Städten gingen die Menschen auf die Straße, beispielsweise in Varna, Smoljan, Jambol, Sliven, Silistra, Veliko Tarnovo, Gabrovo, Pernik, Blagoevgrad, Gotse Delchev, Sandanski, Petrich, Garmen, Lovech, Kjustendil, Stara Zagora, Tutrakan, Kardschali und sogar auf dem Pass der Republik. Es ging gegen den Euro, aber eigentlich für den Lew. Die bulgarische Währung soll erhalten bleiben, zumindest vorerst. So will es die Mehrheit des Volkes. Aber das interessiert die Volksvertreter nicht. Die sagen, dass ein Referendum gegen die Verfassung verstößt. Mich erinnert das an Zeiten, wo man in der Heimat verhaftet wurde, nur weil man die Verfassung hoch hielt. Ist noch gar nicht so lange her. So weit ist man in Bulgarien noch nicht. Damit es nicht soweit kommt, werden schwere Geschütze aufgefahren. Beispielsweise die Titanic, zu der der Euro das Ticket sein soll. Das meint zumindest der Mann mit seinem Schild. Man kann es so verstehen, dass spätestens wenn Bulgarien der Eurozone beitritt, es sich mit dem Euro erledigt hat. Das mag sich erst einmal unwahrscheinlich anhören, aber es könnte durchaus sein, dass das bulgarische Orakel wieder zuschlägt. Das bulgarische Orakel hatte immerhin schon in zwei Weltkriegen Recht behalten. Bulgarien hat sich zweimal mit Deutschland verbündet, und zweimal ist Deutschland den Bach runter gegangen. Glaubt man an das Orakel, muss Deutschland sogar ein Interesse daran haben, dass Bulgarien nicht der Gemeinschaftswährung beitritt. Andere Länder haben sie auch nicht, obwohl sie in der EU sind, zum Beispiel Rumänien, Ungarn, die Tschechische Republik und Polen, aber auch Dänemark und Schweden. Nun, ich will den Teufel nicht an die Wand malen, zumindest nicht für die Bulgaren. Es kann nämlich auch sein, dass der Euro ganz ohne sie den Bach runter geht. Dann hätte es sich auf jeden Fall gelohnt, dass man heute auf der Straße war.

Offene Rechnungen

Neulich in Sofia war ich in der Ausstellung eines bulgarischen Künstlers, der bereits 1968 obiges Bild mit dem Titel „Apokalypse“ gemalt hat. An ihm fällt einerseits das Gewehr auf, das der Mensch in der Hand hält. Darüber hinaus aber auch der im Verhältnis zu seinem massigen Körper sehr kleine Kopf, in dem es zwangsläufig um die Gehirnmasse nicht gut bestellt sein kann. Im Hintergrund die Ruinen erinnern an Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs. Der böse Russe, der aktuell mit Angriffen auf Berlin droht, war in der Stadt. Wird er es demnächst wieder sein? Das Skelett vor den Ruinen ist kein menschliches, sondern gehört einem Tier mit Hörnern. Genau ist es ein Paarhufer, was mich an die Kamelzehe erinnert. Auch das Kamel ist ein Paarhufer. Hier dürften wir es eher mit einer Kuh zu tun haben. Warum musste sie dran glauben? Weil sie mit ihrem Methan dem Klima schadet? Wurde sie eventuell ganz bewusst getötet? Vielleicht von einem von diesen Soja-Naschern und Hafermilch-Schlürfern? Fest steht, dass in Kriegszeiten immer auch alte bzw. offene Rechnungen beglichen werden.

„Wir waren jung und wussten über alles Bescheid“

In der Universitätsbuchhandlung

Fürs „Emotionale Gepäck“ steht auf der gelben Tasche, die ich neulich in Sofia gesehen habe. Zu Hause scheint es jetzt ähnliches fürs „Ideologische Gepäck“ zu geben, um es mal so zu formulieren. Zumindest deute ich so das Interview mit einer Ostdeutschen Punkband, die nun auch von den woken Großstadtlinken genervt ist, deren Rumgeheule keine Sau ertrage. Dieses Zitat gefällt mir auch gut: Wenn ich mir vorstelle, ich wäre jetzt sechzehn, ich würde bestimmt nicht zu den Zecken gehen. Am besten finde ich aber diesen Satz: Wir waren jung und wussten über alles Bescheid / Stumpfe Parolen konnten nicht stumpf genug sein. – Jetzt, wo ich ihn vor mir sehe, denke ich, dass das Ende der Stumpfheit noch lange nicht erreicht ist. Es geht immer noch stumpfer.

Sag mir, wo die Kinder sind

Denkmal in Montana

Wer kennt es nicht, das bekannte Anti-Kriegs-Lied. Ursprünglich von Pete Seeger, bekannt geworden durch Marlene Dietrich. Pete Seeger, der das Lied im Oktober 1955 schrieb, soll sich beim Donkosaken-Lied „Koloda Duda“ bedient haben, also beim Russen. Da ich mir nicht sicher bin, ob es noch gesungen werden darf, habe ich den Titel leicht abgeändert. Ich finde ihn trotzdem passend, nicht nur zum Foto, einem Denkmal in Montana. An dem ist interessant, dass das erste Kind ein Junge mit einer Trommel ist. Ob er nur ein harmloser Trommler ist oder für den Krieg trommelt? Ich weiß es nicht. Gefolgt wird der Junge von einem Mädchen. Auch hier die Frage: Wohin? Am interessantesten ist meiner Meinung nach das dritte Kind, wieder ein Junge. Er schaut nach oben, sucht den Blickkontakt zur Mutter, vermutlich um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Der Blick der Mutter ist kalt und leer. Eine Antwort auf den fragenden Blick des Jungen ist dort nicht zu finden. Dem Jungen folgt noch einmal ein Mädchen, das sich umgedreht hat und zurückschaut. Man sieht das nicht auf dem Foto, weswegen ich es schreibe. Überhaupt ist das Denkmal in Montana nur schwer komplett zu fotografieren. In dem bekannte Anti-Kriegs-Lied von Pete Seeger spielen Mädchen eine besondere Rolle, an die erinnert werden soll: Where are the girls? They’ve all taken husbands. Where are the men? They have gone off to war.

Todesanzeigen

Todesanzeigen in Bulgarien

In Bulgarien gehören sie zum Alltag, in Deutschland muss man sich erst noch an sie gewöhnen. Gestorben wurde immer nur woanders. Der Tod ist aus dem Leben der meisten Landsleute verbannt – bisher zumindest. Das ist dabei sich zu ändern. Ich gehe regelmäßig auf bulgarische Friedhöfe, die mit Friedhöfen in Deutschland nur wenig gemein haben. Im Sommer sind sie ein Jungle und gerade ein Gottesacker – wahrsten Sinne des Wortes. Ich gehe hin, weil meine Vorfahren dort liegen. Bald könnten die eigenen Kinder auf ihnen begraben werden. Es ist jetzt ein knappes Jahr her, dass mein Artikel Bulgarien hat keinen Bock auf „schon wieder Ostfront“ erschien. Die Kriegsgefahr, die viele hier bereits damals spürten, scheint in der Heimat noch nicht wirklich angekommen zu sein. Wie betäubt tanzt man weiter auf einem Vulkan in den nächsten großen Krieg hinein, so mein Eindruck aus der Ferne. Einige sollen sogar schon richtig geil drauf sein, in einen Krieg ziehen zu dürfen: zu morden, zu rauben, zu brandschatzen, zu vergewaltigen und am Ende zu sterben. „Sie haben nichts zu verlieren – außer ihr Leben“ (im Osten sagten wir: „außer ihre Ketten“). Ihren gesunden Menschenverstand haben sie schon verloren.

Die letzten Tage im Frieden

Es könnten die letzten Tage im Frieden sein, denn der böse Russe droht aktuell mit Angriffen auf Berlin. Auf Berlin deswegen, weil der böse Russe will – wenn nötig – auch die Orte angreifen, aus denen der Taurus geliefert wurde. Gut, wichtiger sind dem bösen Russen vermutlich die Stützpunkte der guten Amerikaner in Deutschland. Von daher kann man, was die stolze Bundeshauptstadt angeht, möglicherweise leichte Entwarnung geben. Nun jedoch, wo unsere geliebten europäischen Führer eventuell ein kleines Abhängigkeitsproblem haben – nichts genaues weiß man nicht – sollte man da nicht zu sicher sein. Aber jetzt mal im Ernst: Wie gehen eigentlich solche „Der hat aber angefangen!“ Spiele im Normalfall aus? Gut, bei Kindern ist das nochmal was anderes als bei Erwachsenen. Ich jedenfalls werde es mir zweimal überlegen, ob ich demnächst in einen Flieger nach Berlin, der Zentrale des deutschen Irrenhauses, steige. Und die (noch) in der Heimat verbliebenen müssen sich entscheiden: rasch noch auswandern oder bald in den Krieg ziehen. Oder wie man in Bulgarien sagt: „Freiheit oder Tod!“.

Beim alten Stalin

Gestern war ich bei meinem Nachbarn, dem alten Stalin. Früher nannte sich der alte Stalin einfach nur „Grill Stalin“, heute heißt er „Komplex Stalin“. Gegrillt wird immer noch beim alten Stalin, seine Spezialität sind Forellen. Man kann sich auch einquartieren beim alten Stalin. Seit Jahren hat der alte Stalin Ausbauarbeiten zu laufen, und wenn die einmal fertig sind, können sich nicht nur mehr bei ihm einquartieren, sondern dann wird es auch komplex. Vermutlich braucht man dann eine Landkarte für den „Komplex Stalin“. So weit ist es zum Glück noch nicht. Bisher gibt es nur Speisekarten, und die sind nur auf bulgarisch. Der „Komplex Stalin“ ist ein Familienbetrieb, und das merkt man. Man wird sogar bedient, auch wenn man vorher selbständig am Tresen seine Bestellung abgeben musste. „Halbautomatisch“ nennt man das glaube ich. Dass ich gestern beim alten Stalin war, hatte seinen Grund. Es war der letzte Tag meines Besuchers aus der Heimat, was im „Komplex Stalin“ gefeiert wurde. Mein Besucher ist ein alter Bulgarienreisender, der auch schon mal beim alten Stalin war, weswegen er darauf bestand, wieder hinzugehen. Ich war das letzte Mal im September beim alten Stalin, es ist für mich also auch etwas Besonderes. Genauso wie die Forelle, die ich seither nicht mehr zu mir genommen habe. Beim alten Stalin ist die Forelle traditionell vom Grill, deswegen der ursprüngliche Name „Grill Stalin“. Und sie war – wie immer – hervorragend. Dazu einen einfachen Kohl-Möhren-Salat und zum Nachtisch leckeren Schafjoghurt mit Waldbeeren oben drauf – was will man mehr. Auch der alte Stalin hat die Preise seit dem Krieg erhöhen müssen. Aber ich will gar nicht erst mit den Preisen anfangen und mir damit den Tag versauen. Das Wetter war toll wie das Essen, die Sonne schien und wir saßen unter Trauben im Schatten beim alten Stalin.