Genauso wie in Bulgarien, so sind auch in Rumänien Proteste immer mit Heimatklängen verbunden, zu denen nicht immer aber sehr oft auch getanzt wird. Die Lebensfreude kommt also bei allem Ernst der Lage nicht zu kurz. Lange bin ich nicht mehr auf einer Demo in der Heimat gewesen. Gibt es sie überhaupt noch? Und wenn Ja: Welche Musik wird dort aktuell gespielt? Ich erinnere mich an alte Kampf- und Arbeiterlieder oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben. Auf dem Balkan würde das niemand verstehen, jetzt nicht wegen der Sprache, sondern weil sich einfach nicht gut danach tanzen lässt. – Das flache Gebäude im Hintergrund ist übrigens der Sitz der rumänischen Regierung. Die Fahnen sind so echt wie die Musik. Dann gibt es noch Schilder von Orten oder Regionen, aus denen die Menschen angereist sind. In Bukarest selbst arbeiten viele für den Staat oder die Stadt, was gut bezahlt sein soll, weswegen diese Menschen keinen Grund hätten auf die Straße zu gehen. Die rumänischen Intellektuellen sollen genauso verlogen sein wie die in der Heimat. Offiziell unterstützen sie den Protest nicht, aber heimlich wählen sie den Kandidaten, den man neulich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr gezogen hat, dann doch. So wie viele in der Heimat es mit der AfD halten.

Ich kam am Samstagmorgen nicht an irgendeinem Busbahnhof in Bukarest an, sondern am „Autogara Militari“. Dass der Ankunftsbahnhof in der rumänischen Hauptstadt so heißt, erfuhr ich am Abend zuvor am Zentralen Busbahnhof in Sofia, an dem meine Reise startete. Das Wort „Militari“ löste unschöne Assoziationen in meinem Kopf aus, die sich zum Glück nicht bewahrheiteten. Der Massenprotest in Bukarest verlief absolut friedlich. Gleichzeitig scheint die Welt immer unfriedlicher zu werden, insbesondere Europa. Sollte ich mir deswegen Sorgen machen? Schwer zu sagen. Der deutsche Wahnsinn ist weit weg von den Schluchten des Balkans. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich jedem in der Heimat nur empfehlen, einen Moment inne zu halten und sich die Lage, in der er sich befindet, genau anzusehen. Am besten mit etwas Abstand – so weit dies möglich ist. „Militari“ heißt übrigens nicht nur der Busbahnhof, von dem aus ich am Samstag kurz vor Mitternacht meine Rückreise nach Sofia antrat, sondern ein ganzer Stadtbezirk im Westen der rumänischen Hauptstadt. Bereits im 19. Jahrhundert gab es Militäreinrichtungen. Zuvor lagerte die österreichische Armee auf ihrem Marsch in den Russisch-Osmanischen Krieg hier.
In der Heimat träumt man weiterhin den „Russland besiegen“ Traum, der schnell zum Alptraum werden wird. Ich sehe nichts, was noch passieren könnte, dass man in Deutschland aufwacht. Es muss erst zum nächsten großen Krieg kommen. Unter dem macht es der dumme Deutsche nicht.
Kurz bevor in Bukarest die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen sind, ist auch am anderen Ende der Welt in der US-amerikanischen Hauptstadt einiges los gewesen. Mehrere Freunde und Bekannte haben mich seither gefragt, was ich davon halten würde. Meine Antwort blieb wegen meiner Bukarest-Reise bisher aus. Jetzt möchte ich sie nachholen. Ich tue dies, indem ich Serdar zu Wort kommen lasse. Nicht deswegen, weil Serdar mein „Frienemy“ (auf Deutsch Freundfeind oder falscher Freund) ist, und auch nicht, weil wir beide einen Migrationshintergrund haben, sondern weil ich das allermeiste, was er über das, was da in Washington passiert ist, teile, meine Worte aber drastischer ausfallen würden. Auch deswegen lasse ich Serdar zu Wort kommen.
Das ist kein deutscher Karnevalsumzug, sondern der gestrige Massenprotest in Rumänien, der friedlich und ohne größere Zwischenfälle verlief, und an dem sich bis zu 300.000 Menschen beteiligt haben sollen. Ich war vor Ort, habe ihn mir angeschaut und mit vielen Menschen gesprochen. Ich habe auch schon angefangen zu schreiben, es ist aber noch nicht ganz fertig. Es lohnt sich auf jeden Fall, immer wieder hier auf meiner Seite vorbeizuschauen. Ich habe einige interessante Dinge gesehen und gehört in Bukarest. Es wird auch Fotos geben. Hier ist eins davon:


Über 100.000 Menschen waren gestern in Bukarest auf der Straße. Das ganze hatte etwas von ’89. So auch die Fahne links im Bild mit dem Loch. Die Fahne ist auch original von 1989. Damals hatte man über Nacht das sozialistische Symbol aus der Fahne herausgeschnitten. Vorher erschoss man den sozialistischen Führer und seine Frau. Es war der erste Weihnachtsfeiertag 1989. Ich saß in der Souterrain-Küche meiner Tante hier in Bulgarien, als die Bilder im Fernsehen übertragen wurden. Wir glaubten unseren Augen nicht, was wir da sahen. Ich hatte ein klein wenig Sorge wegen meiner Rückfahrt. Mein Zug sollte fast einen ganzen Tag lang durch dieses verrückte Land fahren. Am Ende war alles ganz harmlos. Bloß dass die Fahnen alle Löcher hatten. Heute ist es so, dass es jemanden gibt in Rumänien, der soll nicht Führer werden. Deswegen lässt man ihn gar nicht erst zu, so sieht es zumindest derzeit aus. Das regt die Leute auf, weswegen sie in Scharen auf die Straße gehen. 100.000 ist das absolute Minimum, was gestern in Bukarest auf der Straße war. Zur Spitzenzeit dürften es zwischen 200.000 und 300.000 Menschen gewesen sein. Irgendwie ist es so wie früher. Da konnte man auch nur den wählen, der auf dem Zettel stand. Damals sind die Menschen auch auf die Straße gegangen. An dem Ort, wo der sozialistische Führer Rumäniens seine letzte Rede hielt, war ich gestern Abend noch (Foto unten). Der Führer, sein Name war Nicolae Ceaușescu, hielt eine Rede vor ganz vielen Menschen vom Balkon aus. Plötzlich drehten die sich um und zeigten ihrem Führer den Rücken. Als der Führer daraufhin nicht mehr wusste, was er sagen soll, wurde die Übertragung unterbrochen – angeblich wegen eines Erdbebens. Und das ist das, was uns jetzt bevorsteht. So zumindest meine Prognose. Entweder ein Erdbeben – oder ein Krieg. Oder, noch besser, ein Krieg, den man – koste es, was es wolle – nicht beenden will. Das geht auch.


So sieht’s gerade aus bei mir. Zeit, sich auf dem Staub zu machen. Erst nach Sofia, dann nach Bukarest. Der Titel ist übrigens geklaut. Deswegen die Anführungszeichen. Der Autor, Walter Kempowski, berichtet über eine Lesereise durch die USA. Bei mir reicht es nur bis nach Rumänien. Es ist auch keine Lesereise. Mein Freund Jerry, der viele Jahre in der britischen Armee diente, meinte, ich würde zu einem Kriegsberichterstatter mutieren. Keine Ahnung, ob das stimmt. Ich hoffe nicht. Was ich hoffe, ist, dass sich etwas besseres als obige Waschküche überall findet.