An der Fahne im Frauenkloster „Schlucht“

Heute bin ich zum Kloster gelaufen. Das habe ich auch schon früher gemacht, aber heute habe ich mich gezielt auf den Weg gemacht, um eine Messe zu besuchen. Bis zum Kloster sind es etwa 45 Minuten. Es ist ein Frauenkloster und heißt – kein Scheiß – „Schlucht“. Normalerweise findet die Messe in der großen Kirche steht, die war aber wegen Winter geschlossen. Immerhin hing ein Zettel an der Tür, der darüber informierte, dass die Messe in einem Raum an der Flagge stattfindet. Zum Glück war die Flagge nicht schwer zu finden und damit auch der Raum. Eine der Frauen winkte mir freundlich zu. Der Raum war im ersten Stock und ich war der einzige Mann. Leider wurde nur wenig gesungen, worauf ich gehofft hatte, dafür viele Gebete gesprochen, in denen Gott um Hilfe gebeten wurde. Das Ganze auf Alt-Bulgarisch oder auch Kirchen-Slawisch, einer praktisch toten Sprache ähnlich wie Latein, weswegen selbst Bulgaren Probleme haben, sie zu verstehen. Am Ende des Gottesdienstes küssten alle Frauen eine Ikone, genau war es das Glas davor. Danach küssten sie auch noch der Oberin die Hand. Zum Schluss meinte die Oberin zu mir, dass ich jetzt auch die Ikone küssen dürfe. Da stand ich ganz schön dumm da, ich Ungläubiger. Erst kein Gesang und jetzt noch küssen. Was sollte ich machen? Immerhin war ich Gast, und darüber hinaus noch ein Mann. Ich wollte auch nicht für einen Freimauer gehalten werden. Und so ging ich zur Ikone und senkte den Kopf vor ihr. Danach musste ich noch ohne Handkuss an der Oberin vorbei, um draußen trotz Fotografierverbot das Foto zu machen. Alles nicht so einfach bei den Frauen in der „Schlucht“.

Die Kälte – Eine Isolation

Der Winter ist jetzt auch in den Schluchten des Balkans angekommen. Passend dazu lese ich „Die Kälte“ von Thomas Bernhard. „Die Kälte“ ist eines der fünf autobiografischen Bücher, die der österreichische Autor am Ende seines Lebens geschrieben hat. Genau heißt das Werk „Die Kälte – Eine Isolation“. Beides passt. Und auch das Novalis-Zitat am Anfang: „Jede Krankheit kann man Seelenkrankheit nennen“. Keine Sorge, ich bin OK. So OK wie man in der heutigen Zeit sein kann. Also eher nicht OK. In normalen Zeiten. Aber wann waren die Zeiten schon normal? Zu Thomas Bernhards Zeiten jedenfalls nicht. Denn was muss ich auf Seite 52 von Bernhards „Die Kälte – Eine Isolation“ lesen: Ich hätte so vieles fragen müssen, nicht sollen, meinen Großvater, meine Großmutter, meine Mutter, was ich alles nicht gefragt habe, jetzt ist es zu spät, wenn wir die Gestorbenen fragen, die Toten, ist es nichts als die verbrecherische Nutzlosigkeit des Überlebenden, der ständig auf Absicherung seiner Verhältnisse aus ist. Ich habe die längste Zeit gehabt, Fragen zu stellen, und ich habe sie nicht gestellt, nicht einmal die wichtigsten Fragen.

Ausdauer und Abwehr stärken

Gestern war ich wieder Müll sammeln. Müll in Bulgarien, das sind vor allem Plastikflaschen, leere Zigarettenpackungen und Kaffeebecher und manchmal auch ein Plastikkanister wie gestern. Müll sammeln gehört zu meiner täglichen Routine. Müll einsammeln ist für mich Meditation. Müll in der Natur bereitet mir körperliche Schmerzen. Müll sammeln dient also auch der Schmerzlinderung und Schmerzprophylaxe. Müll sammeln ist für mich Balsam für die Seele. Da ich täglich Müll sammle, muss ich immer weitere Wege gehen, um Müll zu finden. Das sind, wenn man so will, die Schattenseiten des täglichen Müllsammelns. Ich gehe jetzt aber nicht los und verteile Müll in der Nähe. So ist es nicht. Vielmehr ist es so, dass das Müllsammeln so immer mehr meine Ausdauer und meine Abwehr stärkt. Ausdauer und Abwehr sind wichtig, insbesondere in Zeiten wie diesen.

Den Sack zumachen

Gestern war ich wieder Müll einsammeln. Ich gehe jeden Tag zweimal für jeweils eine knappe Stunde raus, und einmal davon sammle ich Müll ein. Müll gibt es in Bulgarien wie Sand am Meer, ich könnte auch sagen wie in Berlin. In Berlin habe ich noch nie jemanden Müll einsammeln sehen. Hier bin ich auch eine Ausnahme. Immerhin, im Tal der Esel in Südbulgarien, wo ich immer mal wieder zu Besuch bin, ziehen ganze Schulklassen mit Eseln los, um Müll einzusammeln. Mangels Esel muss ich immer alleine los. Dann wird aus Müll einsammeln Meditation. Das ist keine Übertreibung. Außerdem kommen mir beim Sammeln immer die besten Ideen. Ich sag jetzt nicht welche, probier es einfach selber aus. Auf dem Rückweg gibt es mir immer ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Praktisch das Gegenteil von „Ich krieg keine Befriedigung“. Am Ende mache ich den Sack zu, also den mit Müll. Normalerweise macht man das, wenn man genug Geld oder materielle Güter eingesammelt hat. Ich würde so weit gehen und sagen, dass meine Befriedigung größer ist.

Heute im Supermarkt

Heute war ich erst auf dem Basar und danach im Supermarkt. Der Supermarkt ist eine Kette mit dem Namen „Reich Arm“ (Богат Беден). Ich gehe regelmäßig zu „Reich Arm“ und habe auch schon hier darüber geschrieben. Trotzdem habe ich heute erst den Namen verstanden, und zwar als ich wieder draußen war: Man geht reich in den Supermarkt hinein und kommt arm wieder heraus.