Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse ist einmal im Jahr, der Kampf für ein selbstbestimmtes Leben ein täglicher. Was die Meetings der Anonymen Alkoholiker damit zu tun haben und welches Potenzial in ihnen steckt.
Ich war dabei!
Am 1. Mai, dem Maifeiertag, wird in Form von Demonstrationen und feuchtfröhlichen Feiern unserer täglichen Arbeit gedacht. Traditionell starteten die revolutionären Kämpfe am Vorabend in der Walpurgisnacht in Berlin-Kreuzberg. Dieses Jahr in Form einer Queer-feministischen Demo, auf der Männer ausdrücklich unerwünscht waren.
In Steinwurfnähe in der St. Michael-Kirche im Stadtbezirk Mitte fand zeitgleich ein Marathon-Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA) und der Al-Anon Familiengruppen statt, eine weltweite Selbsthilfeorganisation von Angehörigen von Alkoholkranken. Marathon-Meeting deswegen, weil es am 30. April um 12 Uhr begann und am 1. Mai um 12 Uhr endete.
In jeweils zweistündigen Veranstaltungen zu Themen wie „Die Wurzeln unserer Schwierigkeiten“, „Liebe und Toleranz“ und „Demut – Der wahre Weg zur Freiheit“ wurde in der drittältesten katholischen Kirche in Berlin, die nach der Reformation errichtet wurde, die Nacht zum Tag gemacht. Ganz ohne Bengalos und Böller, Alkohol oder sonstige Drogen.
In der Abschlussrunde am 1. Mai von 10 bis 12 Uhr mit dem Titel „Ein spirituelles Leben ist keine Theorie“ sprachen drei Betroffene jeweils 25 Minuten über ihren Weg in ein Leben ohne Alkohol. Dabei fielen Sätze wie „Spiritualität statt Spirituosen“, „Das Leben neu Lernen“ und „Ein Leben aus der Seele heraus“. Eine Sprecherin nannte aus eigener Erfahrung Alkoholiker „Kinder des Zorns“ und das Besuchen von Meetings das „Gesunden der Seele“.
Sucht wird in unserer Gesellschaft in aller Regel als persönliches Problem des Einzelnen betrachtet. Man kann es auch als ein gesellschaftliches Problem sehen. Ich begreife unsere Gesellschaft als eine süchtige Gesellschaft. Wir leben in einem Suchtsystem.
In einem Suchtsystem ist die gesamte Gesellschaft süchtig, selbst wenn einzelne ihrer Mitglieder keinen Alkohol und auch keine anderen Drogen zu sich nehme. Deswegen gibt es die Al-Anon Familiengruppen, in denen sich Angehörigen von Alkoholkranken organisieren, denn sie sind als Co-Abhängige ebenfalls von der Sucht betroffen.
Eine Veränderung der Gesellschaft kann nur bewerkstelligt werden, wenn sich der Einzelne verändert. Das Einfache, was so schwer zu machen ist, denn wir alle haben Angst vor Veränderungen, die allerdings anstehen – so oder so. Eine Gemeinschaft wie die der Anonymen Alkoholiker und allen voran ihre Treffen, auf denen jeder von sich und seinem Befinden im Moment spricht, könnten ein Weg sein. – Vielleicht der einzige.
Der Kampf gegen die Sucht findet nicht nur an einem Tag im Jahr statt und auch nicht an zweien, sondern ist ein täglicher. Der tägliche „Schlachtruf“ der Anonymen Alkoholiker ist „Gute 24!“, denn es geht an erster Stelle immer „nur“ darum, die nächsten 24 Stunden trocken zu bleiben, das erste Glas stehen zu lassen.
Zum Leben im Hier und Jetzt gehört auch, dass ein jeder bei den Meetings willkommen ist. Die einzige Voraussetzung für den Besuch ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, den Teufelskreis der Sucht verlassen zu wollen.
Ein „Du gehörst hier nicht hin!“ gibt es bei den Anonymen Alkoholikern nicht. Eine Ausnahme gab es am Wochenende schon: Hunde mussten leider draussen bleiben.
Foto&Text TaxiBerlin