Laut bulgarischem Nationalradio “Christo Botew” erholen sich städtische Reiseziele nach Corona sehr schnell. So ist in der Hauptstadt Bulgariens die Zahl der Touristen 2022 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 61 Prozent gestiegen. Eigentlich hätte man erwarten können, dass die Leute aufs Land gehen, auch weil sich in großen Städten von jeher kranke Menschen tummeln. Die meisten ausländischen Besucher sind im Alter zwischen 30 und 44 Jahre, also Party People? Jedenfalls gleicht sich’s dann irgendwie wieder aus, denn jeder zweite Bulgare zwischen 20 und 45 lebt im Ausland, allerdings um dort zu leben beziehungsweise zu überleben und nicht um Party zu machen. Die Touristen kommen vor allem aus Israel, Italien, Deutschland, Rumänien und der Türkei. Viele Bulgaren sind zuvor nach Deutschland und dem Vereinigten Königreich ausgewandert. Auch aus Großbritannien und Griechenland hat der Zustrom wieder zugenommen. Es gibt auch Interesse von Touristen aus weiter entfernten Ländern wie den USA, Brasilien, Kanada, Südkorea, Japan und sogar Indien. Dann gibt es bestimmt auch bald in Bulgarien Service-Inder. Sauber machen für die jungen Menschen aus dem Ausland werden auch weiterhin in die Jahre gekommene Zigeunerinnen müssen. Deren Vorfahren sollen auch irgendwann einmal aus Indien eingewandert sein.
Foto&Text TaxiBerlin
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Wie vieles andere auch, so ist im Westen weitgehend unbekannt, dass Bulgarien ein Paradies für Störche ist. Pünktlich zum Frühlingsanfang kehren sie aus dem Süden zurück nach Bulgarien, wo sie ihre alten Nester nur etwas ausbessern müssen, um ihre Nachkommen dort auszubrüten. Bulgaren bringen ihren Nachwuchs seit vielen Jahren vorzugsweise im Ausland zur Welt. Jeder zweite der zwischen 20- und 45-jährigen hat seine Heimat verlassen. So gleicht sich’s wieder aus, könnte man meinen. Aber so sieht es eben auch aus in Bulgarien, wie es aussieht, an vielen Orten wie nach einem verlorenen Krieg. Nicht jeder Krieg wird mit Waffen ausgetragen. Oder wie Brecht es formulierte: “Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.” Fest steht jedenfalls: Kinder bringt der Storch keine mehr, zumindest nicht nach Bulgarien.
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Gleich neben dem Antiquariat “Ortograph” von Konstantin, in dem Che Guevara neben Stalin im Schaufenster steht, befindet sich obiges Geschäft, in dem Musen angeboten werden. Denselben Quatsch, den man bisher im Prenzlauer Berg antraf, gibt es jetzt also auch auf dem Balkan. Auch in meinem Rubikon-Interview mit dem Titel “Der Eselflüsterer” kommt die Muse vor. Ich stelle in dem Interview mein Projekt eines “Donkey Sanctuary & Writers Retreat” vor, dem ersten Rückzugsort für Schreibende, an dem es auch Esel gibt. Mit anderen Worten: Schreiben in den Schluchten des Balkans, und wenn die Muse einmal eine Pause macht, sind da immer noch die Esel, die zum Wandern einladen. Ich sage aber nicht: Fahre nach Sofia oder geh’ nach Berlin in den Prenzlauer Berg und kaufe dir dort eine Muse.
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Im Nordwesten, der ärmsten Region Bulgariens und der EU, ist der Verfall omnipräsent und ein ständiger Begleiter. Jedes zweite Haus verfällt oder ist schon in sich zusammengefallen. Das Haus mir gegenüber (Foto), das demnächst in sich zusammenfallen wird, ist nur ein Beispiel von vielen. Der allgegenwärtige Verfall macht etwas mit den Menschen, die von ihm umgeben sind. Davon bin ich überzeugt. Ich zum Beispiel schwanke permanent zwischen Heruntergezogensein und Neuanfang – gerade jetzt im Frühling. Am Anfang wollte ich noch jedes Haus retten. Oft habe ich mit meinem Bürgermeister darüber gesprochen. Ja, das sei eine gute Idee, und er würde gerne mithelfen. Aber auch er, der äußerst aktiv ist und gerne hilft, kann sich nicht um alles kümmern. Dass das Dorf Strom und Wasser hat und die ärmsten unter den vielen Alten im Dorf nicht verhungern, das sind seine Prioritäten und seine Triage, mit der er täglich aufs Neue konfrontiert ist. Und irgendwann will auch er einfach mal “nur” Leben, nicht immer nur Überleben.
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