Demnächst werde ich aus den Schluchten des Balkans nach Deutschland kommen. Einerseits fühle ich mich deswegen wie “Crocodile Dundee – Ein Krokodil zum Küssen” der in die große Stadt geht, andererseits macht es mir Angst. Angst unter anderem deswegen, weil mir bis heute nur zwei Geschlechter bekannt sind und ich darüber hinaus immer vergesse, wie viele es angeblich gibt. Neulich ist mir nun eingefallen, dass ich eigentlich ein Mädchen werden und Rumjana, in Bulgarien Rumyana, heißen sollte. Hildegard Knef hat das mal mit umgekehrten Vorzeichen so besungen: “Der Vater war wütend, er wollt’ einen Sohn. Ich sah mich so um und wusste auch schon: Von nun an geht’s bergab!” Diese Talfahrt durchbrach mit dem Wintersemester 1997/98 die Schallmauer, denn da wurde der “Studiengang Geschlechterstudien als erster Magisterhauptfachstudiengang der BRD – zunächst kostenneutral – eingerichtet”. So viel zur Chronologie der Ereignisse und zur Eigenwerbung des “Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien” in Berlin, wo sonst?! Berlin ist nicht nur offizielle Hauptstadt meines Heimatlandes, sondern auch die Zentrale des Irrenhauses Deutschland. Und genau dorthin will ich nicht nur zurück, sondern muss es auch. Unter anderem muss ich deswegen zurück, weil die Mietskaserne, in der ich wohne, verkauft werden soll. Ganz genau sollen nur die Seitenflügel verkauft werden, aber nicht das Vorderhaus. Auf so eine bescheuerte Idee kommt kein Bulgare. Das sage ich nur, weil ich im Seitenflügel wohne. Verraten und verkauft, sagte man früher dazu. Das bringt mich zurück zu meiner Angst. Verkauft zu werden ist nicht schön, aber es gibt schlimmeres. Das mit den Geschlechtern, die ich nicht kenne, beunruhigt mich mehr. Was ich weiß, ist, dass man sich sein Geschlecht aussuchen kann. Wie dies funktioniert, weiß ich allerdings nicht. Festzustehen scheint mir, dass ich als alter weißer Mann der erste in der Nahrungskette bin. Oder auch der letzte – fressen oder gefressen werden. Jedenfalls ist es nicht schön, ein alter weißer Mann zu sein, insbesondere nicht im Regenbogen-Berlin. Neulich nun kam mir eine Idee. Wie wäre es, wenn ich jeden Satz mit “Ich als Frau …” beginnen würde. Dann könnte ich praktisch alles sagen, und es würde sogar stimmen, oder zumindest halbwegs, denn ich sollte ja eigentlich ein Mädchen werden. Zum Beispiel könnte ich folgendes sagen: “Ich als Frau finde die Diskriminierung des alten weißen Mannes nicht gut.” Oder auch das: “Ich als Frau finde es komisch, dass die, die sich gestern noch über die Leute lustig gemacht haben, die nach Toilettenpapier gerannt sind, nun zu ihrer Bank rennen, um dort ihr Toilettenpapier abzuheben.” Auch hierfür waren die Meetings der Anonymen Alkoholiker eine gute Schule für mich. Bevor man dort etwas sagt, nennt man seinen Namen und fügt ihm das Wort “Alkoholiker” hinzu. Von da zu “Ich als Frau”, und auch zu “Von nun an geht’s bergab!”, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
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Eselsmilch ist ein lieblicher, praktischer ungenießbarer Weisswein aus Bulgarien, den es schon zu sozialistischen Zeiten gab – auch in der DDR, aber nicht nur. An erster Stelle ist Eselsmilch Muttermilch, die die Eselin für ihre Nachkommen sozusagen produziert. Diese finden den Ort, wo die Erzeugerin die Muttermilch für sie bereitstellt, schon nach wenigen Minuten, nachdem die Mutter sie zuvor trocken geleckt hat. So auch das weibliche Eselfohlen von Ivo, dass von Geburt an wie alle Eselfohlen stehen und auch laufen konnte. Esel tragen 11 bis 14 Monate, ähnlich wie Pferde. Man kann also den Tag der Geburt nicht so genau bestimmen wie beim Menschen. Das war auch ein Grund für die Überraschung, dass ausgerechnet am Tag meines spontanen Besuches bei Ivo das Fohlen geboren wurde. Ivo sprach in dem Zusammenhang von Glück, dass ich ihm gebracht hätte, und auch von Freude.
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Gestern war ich im Bücherdorf Chelopek, das sich etwa eine Stunde entfernt auf der anderen Seite des felsigen Teils des Balkangebirges bei der Stadt Vraca befindet, der auch “Vraca-Balkan” genannt wird. Viel gäbe zum ersten Bücherdorf Bulgariens zu sagen, was ich demnächst nachholen werde. Jetzt will ich nur soviel verraten, dass Chelopek, wie ich erfuhr, auch als “Esel-Hauptstadt” Bulgariens bekannt ist. Auf dem Rückweg bin ich kurzentschlossen bei meinem Freund Ivo vorbeigefahren, den ich im letzten Jahr kennengelernt habe, weil er wie ich ein Esel-Narr ist. Damals hat er sogleich eine seiner Eselinnen gemolken, damit wir unser Kennenlernen mit einem Glas Eselsmilch begießen konnten. Gestern ist eine weitere Eselin hinzugekommen, die er bald melken kann. Denn just in dem Moment, in dem ich bei Ivo war, hat eine seiner Eselinnen ein weibliches Eselfohlen zur Welt gebracht. Mit von der Party war die Schwester, die mittlerweile so groß ist wie die gemeinsame Mutter. Die Mutter kommt, und jetzt wird es fast unheimlich, ursprünglich aus Chelopek, der “Esel-Hauptstadt” Bulgariens. Also dorther, wo ich gestern auch herkam, und wo ich auf der Rückfahrt kurzentschlossen bei Ivo vorbeigefahren bin, wo genau diese Eselin gerade ein Eselfohlen zur Welt brachte.
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Gestern habe ich mich mit meinem englischen Freund Jerry über die Frage unterhalten, ob und warum man in Bulgarien gerne immer alles positiver darstellt, als es ist, insbesondere Ausländern gegenüber. Jerry stimmte mit mir überein, dass es dieses Phänomen gibt, und dass sicherlich auch Scham eine Rolle spielt. Dann meinte er, und das ist der Unterschied, dass wir auch wegen diesem Verfall hier sind, den ich gestern als maroden Charme hoch Zwei bezeichnet habe. Bulgaren mögen in aller Regel keinen maroden Charme, was verständlich ist, denn sie sind ständig von marodem Charme hoch Zwei umgeben, insbesondere im Nordwesten, der ärmsten Region nicht nur Bulgariens, sondern der gesamten EU. Und man sucht bekanntlich immer das, was man nicht hat. Auch deswegen lebt jeder dritte Bulgare im Ausland, von den 20- bis 45-jährigen sogar jeder zweite. Bulgaren darf man mit “marodem Charme” und “beklagenswert” als Zustandsbeschreibung nicht kommen. Höchstens wenn man nicht will, dass sie kommen. Warum ist für Jerry und mich und viele andere aus dem Westen maroder Charme und Verfall so anziehend? Ich denke, weil es das ist, was es im Westen (noch) nicht gibt, er aber auf dem Weg dahin ist. Es ist, wenn man so will, eine Art von Dekadenz. Uns geht’s zu gut. Vielleicht erklärt es auch ein wenig das, was Freud “Todestrieb” nannte. Ein Trieb ist es nicht, aber das Leben ist nunmal endlich. Nur, wenn der Tod aus dem Alltag verschwunden ist wie im Westen, sucht man nach ihm, auch unbewusst. Unter anderem deswegen unterstützt manch einer wohl auch Krieg gegen ein Land, in dem er nie war und dessen Bewohner er nicht kennt. Auch auf die Gefahr hin, selbst zum Kriegsteilnehmer zu werden. Dann lieber maroden Charme gut finden.
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Gestern ist eine Diskussion, fast könnte man von Streit reden, über den bulgarischen Text meines Projektes entbrannt. Ich hatte ihn von einer Bekannten vom Deutschen ins Bulgarische übertragen lassen und einer Nachbarin zum Lesen gegeben. Der Auftakt war das Wort “beklagenswert”, das ich im Deutschen dafür verwende, den Zustand des Stalls zu beschreiben. Im Gegensatz zum obigen Stall ist mein Dach noch halbwegs dicht. Alle Einheimischen, die ich bisher gefragt habe, darunter auch viele Handwerker, waren der Meinung, dass man meinen Stall nicht erhalten kann, einfach weil der Zustand zu schlecht sei. Das hat in Bulgarien noch nichts zu bedeuten. Mit meinem Bad habe ich dieselbe Erfahrung gemacht. Alle waren der Meinung, ich könne den Holzboden nicht erhalten, sondern müsste das Bad komplett fließen, wie das in Bulgarien üblich ist. Und das, obwohl ich von Anfang an die Duschkabine erwähnte, die ich ins Bad stellen wollte. Aber der Bulgare kann sich eine geschlossene Duschkabine nicht vorstellen, darüber hinaus kein Bad, das nicht vollständig mit Fließen zugekleistert ist, und das mangels Duschkabine oder auch nur Duschvorhang immer komplett nass ist nach dem Duschen. In meinem Bad gibt es keine einzige Fließe, dafür Holzdielen auf dem Boden und eine Duschkabine. Am Ende meinten alle, die vorher gesagt hatten, dass das nicht geht, dass das so natürlich gehen würde. Zurück zum Wort “beklagenswert”. Das klinge zu negativ, auch wenn es stimmt, zumindest im Deutschen, solle ich auf Bulgarisch lieber “nicht gut” als Zustandsbeschreibung des Stalles verwenden, um den Bulgaren nicht abzuschrecken, weil “beklagenswert” hier “hoffnungslos” sei. Nur “nicht gut” kann alles und nichts bedeuten, so denke ich. Aber egal, weiter im Text. Meine Nachbarin meinte, ich sollte nicht schreiben, dass unsere Region die ärmste Bulgariens und der EU sei, weil das zu negativ klinge. Meinen Einwand, dass es die Wahrheit ist, ließ sie nicht gelten. Auch in Spanien und Italien gäbe es solche Regionen, sogar in Deutschland. Das wisse sie, auch wenn sie nie in Deutschland war. Es mag sie durchaus geben, und demnächst mit Sicherheit noch mehr, aber nicht in diesem Ausmaß. Dass praktisch jedes zweite Haus verfällt oder schon in sich zusammengefallen ist, weil jeder Zweite das Land verlassen hat, das ist schon ziemlich einmalig in Europa, vor allem was die Häuser angeht. Im Gespräch stellte sich heraus, dass meine Nachbarin sich sorgt, dass wenn ich die Wahrheit schreibe, ich die Menschen abschrecken würde. Ich will jetzt nicht klugscheißen, aber da es um einen Rückzugsort für Schreibende geht, erlaube ich mir Ingeborg Bachmann zu zitieren, die der Meinung war, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei. Neulich habe ich den Verfall, der mich hier überall umgibt, als marode beschrieben, um an den maroden Charme zu erinnern, und weswegen Anfang der Neunziger Menschen nach Berlin gekommen sind. Das ist sozusagen mein positiv Sehen der Dinge. Verglichen mit dem maroden Charme damals, würde ich den hier und heute als maroden Charme hoch Zwei bezeichnen.
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Einst gab es in der bulgarischen Hauptstadt Sofia den großen und bekannten Buchbasar auf dem Slawejkow Platz – bis dieser vor einigen Jahren saniert wurde. Danach haben die zahlreichen überdachten Bücher-Stände nicht wieder eröffnen dürfen, sind sie verbannt von dem zentralen Platz. Lediglich das Denkmal für Petko und Pentcho Slawejkow, Schriftstellervater und Schriftstellersohn, erinnern daran, dass der Platz etwas mit Büchern und Schreiben zu tun hat. Ich selbst habe viele Bücher auf diesem Markt gekauft und kannte einige Verkäufer auch persönlich. Mit einem, sein Name ist Wasko, war ich sogar befreundet. Er hat mir viele Bücher besorgt, beispielsweise Bergführer für das Balkangebirge für meine Esel-Wanderung quer durch Bulgarien. Dass der Buchbasar nicht wieder öffnen durfte auf dem Slawejkow Platz, hat meinem Freund Wasko das Herz gebrochen und bald darauf ist er verstorben. Ein einziger Stand konnte sich damals in den kleinen Park vor dem Hotel “Rila” retten, der vielleicht 400 Meter entfernt vom Slawejkow Platz ist. Der Ort ist traurig und lädt eher zum Weinen als zum Kaufen ein. Trotzdem gehe ich immer bei ihm vorbei, wenn ich in Sofia bin. Es ist ein Ritual, das schmerzhaft ist. Da jetzt auch der gleichnamige Park “Rila” saniert wird, ist es möglicherweise nur eine Frage der Zeit, bis auch diesem Ritual ein Ende gesetzt wird, bis auch der letzte Buchstand der bulgarischen Hauptstadt verschwunden ist.
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