Bericht aus Bulgarien (425) – “Nur für Robuste”

Das neben dem “Vegas”

Ich bin jetzt auch einer von diesen Caféhausgängern geworden, allerdings nicht in Wien, sondern in Bulgarien. In obigem Caféhaus, dessen Name mir gerade nicht einfällt, ich nenne es immer “Das neben dem ‘Vegas'”, treffe ich mich regelmäßig mit meinem englischen Freund Jerry, um die Lage zu besprechen. Und die ist in Bulgarien nicht ernst, aber hoffnungslos. Beispielsweise haben wir keine Hoffnung mehr, dass wir jemals ein Stück Torte in unserem Caféhaus essen werden. Einfach, weil diese wohl alle auf ewig so süß sein werden, wie sie es eben sind. Tee kann man auch nicht trinken, denn das Wasser, in das man seinen Teebeutel tunken soll, ist nur lauwarm und nicht heiß. Immerhin, den Kaffee kann man zu sich nehmen. Mit einem Wiener Melange hat er freilich nichts zu tun, dafür kostet er aber auch nur 70 Cent. Der niedrige Preis ist den Robusta-Bohnen geschuldet, die in bulgarischen Caféhäusern regelmäßig Verwendung finden. Robusta-Bohnen sind billig und nur für robuste Menschen, die jegliche Hoffnung fahren gelassen haben. Dafür kann nach dem Besuch eines bulgarischen Caféhauses garantiert Texte schreiben, die man nach dem Besuch eines Wiener Caféhauses nie und nimmer schreiben könnte.

Foto&Text TaxiBerlin

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS – F43.1)

Ich kenne Nina Maleika nicht, habe sie auch nicht gegoogelt. Auch über ihren Unfall, den sie in obigem Interview erwähnt, weiß ich nichts. Ich höre ihr einfach nur zu, so wie ich Menschen in meinem Taxi zugehört habe. Nina Maleika wohnt noch in der Heimat, hat aber auch schon daran gedacht, sie zu verlassen. Auch wenn die Worte “Ein Land zum Davonlaufen” nicht aus ihrem Mund kommen, so kann man sie zwischen den Zeilen heraushören. Auch sie spricht von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, also genau das, was ich meinen Landsleuten neulich attestiert habe. Auch Nina Maleika hat den Eindruck, dass viele Menschen in der Heimat nach diesen drei Jahren sehr erschöpft und fix & fertig mit den Nerven sind. Ihrer Meinung geht die große Phase der kollektiven Depression in Deutschland erst los. Dem stimme ich zu, auch wenn viele dies ganz anders sehen.
Interview NinaMaleika
Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (424) – “Ewige Liebe”

TVG Grosswallstadt “Ewige Liebe”?

Am Montag auf dem Flohmarkt in Montana habe ich auch meine Vorratsbox gefunden, nach der ich so lange gesucht habe. Sie ist aus Holz, hat Tragegriffe, die Maße 60x36x33 und ist sogar abschließbar. Die Kiste ist weiß, ich werde die Farbe aber irgendwann abschleifen und damit auch die Aufschrift “TVG” in dunkellila. Im Internet findet man den Handballverein TVG Grosswallstadt “Ewige Liebe”, der mir nicht ganz unbekannt ist, denn ich habe in meiner Jugend viele Jahre Handball gespielt. Ob meine Kiste wirklich einmal zu diesem Verein gehörte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest steht, dass die Kiste jetzt auf dem Balkan angekommen ist. Es stimmt wirklich: Besuche Bulgarien, deine Sachen sind schon da! Der Mann, der mir die Kiste verkaufte, saß in seinem Transporter, mit dem er regelmäßig nach Deutschland fährt, um dort Sachen einzusammeln. Manchmal findet er auch die “Große Liebe”, für die er ursprünglich 30 Lewa (15 Euro) haben wollte. Am Ende haben wir uns auf 15 Lewa (7,50 Euro) geeinigt. Das ist nicht selbstverständlich. Im Gegensatz zu Flohmärkten in Deutschland ist verhandeln auf bulgarischen eher unüblich. Vermutlich wollte der Mann die Kiste loswerden, weil sie zu viel Platz in seinem Transporter einnimmt. Gestern kam James bei mir vorbei, der mir eine Leiter bauen will. Mein englischer Freund Jerry hat mich mit James, einem Lands- und Zimmermann, bekannt gemacht. James meinte, dass 15 Lewa (7,50 Euro) ein guter Preis ist, auch weil das Material mehr wert ist. Er gab mir auch einen Tip, wie ich die Farbe von der TVG “Ewige Liebe” abkriege, und zwar mit Tapetenkleister und Soda zum Backen, was ich da habe, weil ich neuerdings auch backe. Nur den Tapetenkleister, den muss ich mir noch besorgen.

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“Niemand hat die Absicht, eine Wahl zu wiederholen”

Ich kann es auch gar nicht, weil ich bereits bei der letzten Berliner Wahl nicht wählen war. Eine Wahlwiederholung ist für mich auch deswegen nicht möglich, weil ich der Stadt, die früher einmal meine Stadt war, vor nunmehr fast 20 Monaten den Rücken gekehrt habe. Wie das Land, so seine Hauptstadt: Zum Davonlaufen. Anstatt meine Zeit mit Wahlen zu verplempern, die bekanntlich verboten wären, wenn sie was ändern würden, bilde ich mich lieber weiter. Das kann ich auch nur jedem empfehlen, sich auf das Kommende vorzubereiten. Deswegen lese ich wieder Thoreau. Henry David Thoreaus bekanntestes Werk ist “Walden”, in dem er über sein Leben am Walden-See in den Wäldern von Massachusetts schreibt, in die er sich zwei Jahre zurückzog. Auch wenn ich mit meinem Rückzug in die Schluchten des Balkans in der Tradition von Thoreaus “Walden” stehe, ist mir “Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat” gerade wichtiger. Zum Beispiel das: Ich glaube, wir sollten zuerst Menschen sein, und dann erst Untertanen. Dann das: Die einzige Pflicht, die zu befolgen ich auch ein Recht habe, ist jederzeit das zu tun, was ich für richtig halte. Und das: Ich bin nicht geboren, um mich zwingen zu lassen. Ich will nach meiner eigenen Art atmen. – Vor allem das mit dem Atmen ist in der Zeit des Maskenwahns zu meinem Motto geworden, und nicht nur, weil ich unter einer Maske nicht genug Luft bekomme.
Video WolfgangWodarg
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Bericht aus Bulgarien (423) – “Fruchtsalat”

Kann man öfters machen

Gerade habe ich mir noch einen Fruchtsalat gemacht. Auch in den Schluchten des Balkans braucht man Vitamine. Die Früchte habe ich mir letzte Woche auf dem Markt gekauft, der hier Basar heißt. Da ich nur einen warmen Raum in meiner Hütte habe, brauche ich keinen Kühlschrank. Mein Kühlschrank ist mein Flur. Hab ich auch schon wieder Geld gespart. In meinem Fruchtsalat sind ein Apfel, eine Apfelsine, eine Möhre, eine viertel Rote Beete, ein Drittel von einem Granatapfel und drei getrocknete Datteln. Das schöne an einem bulgarischen Basar ist nicht nur, dass die Sachen preiswert sind, sondern dass man sie sich darüber hinaus selbst aussuchen kann. Man muss also keine abgepackten Netze oder sowas kaufen. Ich wähle mir meine Früchte immer ganz genau aus, sie sind sozusagen Handverlesen. Bestimmte Dinge kaufe ich so gut wie gar nicht mehr, allen voran Fleisch. Ich habe mich in Bulgarien zum Fast-Vegetarier entwickelt. Heute habe ich allerdings altes Weißbrot zu Bröseln verarbeitet, mit denen ich Schnitzel panieren werde. Das zelebriere ich dann richtig. Man nennt mich im Dorf nicht nur den Deutschen, sondern auch den Schnitzel-König. Meine Wiener Schnitzel sind legendär. Sie sind zugleich das einzige Fleisch, das ich esse. Zu irgendwas muss ich schließlich die Semmelbrösel verarbeiten. Die nächsten werde ich zusammen mit meiner Partnerin verspeisen. Sie kehrt Ende der Woche aus Kalifornien in die Schluchten des Balkans zurück, die jetzt auch ihr zuhause sind. Über den Fruchtsalat hätte sie sich heute auch gefreut. Ich mach’ dann einfach ‘nen neuen.

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Bericht aus Bulgarien (422) – “Banitsa backen”

Frisch aus dem Ofen

Ich habe mir gerade ‘ne Banitsa gebacken, und zwar nach diesem Rezept. Dass ich jetzt auch backe, hat zwei Gründe. Zum einen spare ich etwas Geld, das ich nicht habe. Der wichtigere Grund ist aber, dass ich weiß, was drin ist in der Banitsa. Aber vor allem: Dass sie auch schmeckt! Es wird mit jedem Tag schwerer, Dinge zu finden, die man noch essen kann. Wenn kaum einer Kohle hat so wie bei mir in der ärmsten Region des Landes, dann verkauft man auch nichts, schon gar nichts teures. Ich gehe davon aus, dass überall nur noch das billigste vom Billigen drin ist, was man anderswo wegschmeißen würde – so schmeckt es zumindest meistens. Aber ich will mich nicht beklagen. Es ist das Kommende. Heute auf dem Balkan, morgen in Berlin. Die Tafel soll dort schon gar nicht mehr hinterherkommen, weil jeden Tag mehr Hungrige vor der Tür stehen. Wäre interessant zu wissen, wie da das Essen ist. Vermutlich ist es derzeit noch etwas besser als bei mir hier. Ist aber bestimmt nur ‘ne Frage der Zeit, bis sich auch da die Unterschiede verwischen. Man kann sich darauf auch nicht vorbereiten. Außer man lernt schnell noch ein bisschen kochen und backen. Das kann nicht schaden. – Meine Banitsa sieht übrigens nicht nur gut aus, sondern schmeckt auch lecker. Dazu gibt es selbstgemachten Ayran. Bulgarischen Joghurt, Wasser und etwas Salz, aber nicht zu viel, denn der Schafkäse in der Banitsa ist salzig genug – vermutlich auch mangels Geschmack.

PS: Meine Banitsa hat nicht den im Rezept stehende Quark (sie hat dafür mehr Joghurt), ganz einfach deswegen, weil Quark in Bulgarien gänzlich unbekannt ist. Da es auch in Amerika keinen Quark gibt, gehe ich davon aus, dass es sich bei ihm um eine deutsche Erfindung ist, die ich wegen des guten Joghurts nicht vermisse.

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Die Balkanisierung Deutschlands und des Westens

Hatte ich bisher nur die Balkanisierung Berlins beklagt, so muss ich meine Klage nun auf den gesamten Westen ausweiten. Jeffrey Sechs setzt in obigem Video den Krieg in der Ukraine nicht nur in den in westlichen Medien fehlenden Kontext, sondern erklärt ab 12:47 das, was ich meine, so: “Meine Freunde sagen, Jeff, wie konntest du jemals erwarten, dass wir das einhalten? Das ist Unsinn! – Ich antworte: ‘Doch, ihr habt ein Abkommen!’ – Oh, eine Vereinbarung! Und wir sollen das einfach so hinnehmen?” – Mit der Vereinbarung ist das Minsker Abkommen gemeint, das, wie Angela Merkel kürzlich zugab, 2015 nur unterzeichnet wurde, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung zu geben. Und das erinnert mich an die Balkanlegende von der Schlange und dem Schäferhund. Der Hund möchte gerne über den Fluss, weiß aber nicht wie. Da bietet sich die Schlange an, ihn über den Fluss zu bringen. Der Hund zögert, denn er ist sich sicher, dass die Schlange ihn beißen und mit ihrem Gift töten wird. Die Schlange beruhigt ihn, sie werde dies nicht tun, er solle sich keine Sorgen machen. Der Hund willigt schließlich ein und lässt sich von der Schlange über den Fluss bringen. Kaum am anderen Ufer angekommen, passiert das, was der Hund befürchtet hatte. Die Schlange beißt ihn. Im Sterben und mit letzter Kraft fragt der Hund die Schlage, warum sie das getan habe, sie hätte ihm doch das Gegenteil versprochen. Darauf die Schlange: “Weil wir auf dem Balkan sind!” Heute müsste es lauten: “Weil wir der Westen sind und es können!” – Ob wir es wirklich können, muss allerdings erst noch bewiesen werden.
Video Jeffrey Sachs
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Bericht aus Bulgarien (421) – “Rückmeldungen”

Nach meinem letzten Beitrag, in dem es um meine wunderbare Bulgarisierung ging, erhielt ich zahlreiche Zuschriften, für die ich mich auf diesem Wege noch einmal herzlich bedanken möchte. Eine kam ganz und gar aus Neuseeland, auch dort werde ich also wahrgenommen. Eine andere Rückmeldung kam aus der Schweiz. Der Schweizer hat mir ein Bild von seinem Berg geschickt, weswegen ich auf die Idee gekommen bin, obiges zu veröffentlichen, was mein Ausblick auf “Die Bulgarische Schweiz”, das Balkangebirge, ist. Weitere e-mails erreichten mich aus dem Bayrischen, aus Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Was alle Leserbriefe verband, war, dass die Verfasser meine Berichterstattung schätzen, was mich glücklich macht. Meine Arbeit ist also nicht umsonst, sondern sie erreicht Menschen und spricht sie an. Darüber freue ich mich sehr. – Vielen Dank dafür!
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“Ist Humor eine Waffe, die wir unterschätzen?”

Letztes Jahr hat mir einer meiner Leser und Sponsoren meiner Arbeit aus der Heimat das Buch “Wenn’s keiner sagt, sag ich’s” von Milosz Matuschek zukommen lassen, wofür ich ihm immer noch dankbar bin. Milosz Matuschek wuchs als Spätaussiedler in Deutschland auf, hat Rechts- und Sozialwissenschaften in München, Paris und Regensburg studiert und lange Zeit, genau waren es sechs Jahre, Kolumnen für die Neue Zürcher Zeitung verfasst, bis er zu kritisch wurde und die NZZ ihn rausgekickt hat. Ursprünglich kommt Milosz Matuschek aus Polen. Seine Eltern sind in den Westen gegangen, da war Milosz Matuschek noch ein Kind. Irgendwo begründete Milosz Matuschek sein Motto, das gleichzeitig Titel seines Buches ist, damit, dass seine Eltern nicht in den Westen gegangen seien, damit sie hier heute dieselben Denkverbote wie in Polen erleben. Meinem Vater ginge es, würde er noch leben, heute wahrscheinlich ähnlich. Er hat Bulgarien bereits in den Sechzigern verlassen, an erster Stelle aus materiellen Gründen, aber nicht nur. Auch er war ein sehr freiheitsliebender Mensch. In gewisser Weise trifft die Aussage von Milosz Matuschek auch auf mich zu. Ich bin nicht ’89 auf die Straße gegangen, um mir heute sagen zu lassen, was ich denken darf und sagen kann. Eine Frage geht mir aktuell auch durch den Kopf, die in obigem Interview beantwortet wird. Es ist die Frage, ob wir vielleicht den Humor als Waffe unterschätzen. Bereits gestern hatte ich die Frage für mich mit Ja beantwortet. Das war, bevor ich das Interview mit Milosz Matuschek gehört habe. Wenn du wissen willst, wie er die Frage beantwortet, musst du nur obigem Gespräch lauschen.
Interview Apolut
Text TaxiBerlin

Neues Talk-Radio aus Berlin mit Paul Brandenburg


Talk Radio ist ein sehenswerter Film von Oliver Stone aus dem Jahr 1988 aus Amerika. In Berlin hat Jürgen Kuttner das Talk Radio Anfang der Neunziger mit seinem legendären Sprechfunk erfunden. Seit einiger Zeit gibt es wieder einen Sprechfunk auf RadioEins mit Jürgen Kuttner, der aber mit dem Sprechfunk auf FritzRadio von Anfang der Neunziger, als die Mitschnitte mittels Musikkassetten im Land verbreitet wurden, nichts zu tun. Berliner Talk Radio im besten Sinne ist aktuell die Sendung Paul Brandenburg Live. Der Arzt Paul Brandenburg lädt dazu immer einen Experten ein, Zuhörer können anrufen, ihre Statements abgeben und Fragen stellen. Ein regelmäßiger Anrufer der Sendung ist der Berliner Polizist Lutz, der aus dem Nähkästchen plaudert, in obiger Ausgabe unter anderem über Party People in meinem ehemaligen Stadtbezirk, dem Friedrichshain. Ein anderes Thema sind die zahlreichen Landsleute, 1.5 Millionen, die seit 2015 ihre Heimat verlassen haben, und zu denen ich auch gehöre. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollen mittlerweile mehr Menschen Deutschland verlassen, als hinkommen. So wie ich es auch in meinem letzten Artikel beschrieben habe: Ein Land zum Davonlaufen.
TalkRadio PaulBrandenburg
Text TaxiBerlin