Ungekreuzigte

Immer, wenn ich in Sofia bin, gehe ich zum Friseur, genauer zur Friseurin. Es ist, wenn man so will, ein Ritual. Meine Friseurin hat neulich den Preis erhöht. Kostete ein Männerhaarschnitt bisher 5,99 Lewa (drei Euro), kostet er jetzt 7,99 Lewa (vier Euro). Es ist aber nicht nur der immer noch günstige Preis, der denen auf dem Land entspricht, der mich immer zur selben Friseurin gehen lässt. Sie versteht einfach ihr Handwerk, was in Bulgarien nicht selbstverständlich ist. Die Fachkräfte sind alle im Ausland. Darüber hinaus ist sie witzig. Ein Hinweis darauf sind ihre Arbeitszeiten auf dem Schild unten rechts neben dem Fussball-Plakat. “Arbeitszeiten: von bis ich komme bis dass ich gehe, Pause: wenn ich nicht da bin.” Dazu ist die Frau Christin. Wie ich bereits erwähnte, ist es so eine Zeit, dass sich immer mehr Menschen dem Glauben zuwenden. Praktisch so wie nach 1989, zumindest in Bulgarien. Und da sind zwei Schilder ebenfalls rechts interessant. Auf dem einen steht “Christ ohne Kreuz”, was aber nicht ganz ernst gemeint ist. Denn auf dem anderen steht, dass es im Himmel keine Ungekreuzigte gibt. Den Begriff Ungekreuzigte kannte ich bisher nicht. Sogleich muss ich an Ungeimpfte denken, von denen es in Bulgarien genauso viele wie Geimpfte in Deutschland gibt (wenn nicht gar mehr), aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Linden- & Sauerkirschbäume vor einstürzenden Altbauten

Das Balkan-Gebirge teilt Bulgarien nicht nur in Nord- und Süd-Bulgarien, sondern ist auch eine Wetterscheide. Wir im Norden hatten heute Regen, Sofia auf der anderen Seite hatte keinen. Da das Dach von dem Haus gegenüber nicht mehr dicht ist, regnet es rein, und das schon einige Zeit. Die Bäume vor dem Haus sind wilde Sauerkirschen. Niemand hat sie gepflanzt, sie sind einfach so gewachsen. Am Anfang wusste ich nicht, was das für Bäume sind. Wenn sie demnächst anfangen zu blühen, ist das Haus kaum noch zu sehen. Die wilden Sauerkirschen schmecken sehr lecker. Letztes Jahr habe ich so einige Gläser Marmelade und Rote Grütze aus ihnen gemacht. Auf der anderen Seite und nicht im Bild ist ein weiteres Haus, von dem gerade das Dach eingestürzt ist. Vor ihm wachsen Lindenbäume, aus deren Blätter & Blüten sich wohlschmeckender Tee machen lässt.

Like a Complete Unknown

“A Complete Unknown”, auf Bulgarisch “напълно непознат” (napŭlno nepoznat), heißt der neue Film, ein “biographical motion picture” (kurz: “Biopic”), über Bob Dylan. Der Filmtitel ist dem bekannten Dylan Song “Like a Rolling Stone” entnommen. Der komplette Refrain heißt: “How does it feel, how does it feel? To be on your own, with no direction home – Like a complete unknown, like a rolling stone.” Der Film lief am 7. Februar in Bulgarien an, war aber nur wenige Wochen im Programm. Gestern lief er noch einmal im “Haus des Kinos”, auf Bulgarisch “Дом на киното” (Dom na kinoto), weswegen ich mich extra in die bulgarische Hauptstadt begeben habe, immerhin 100 Kilometer hin und auch wieder zurück, und ich muss sagen: Die Reise hat sich gelohnt!

Das Kino dürfte aus der sozialistische Zeit Bulgariens stammen. Dass seither viel gemacht wurde, konnte ich nicht erkennen, was mir das “Haus des Kinos” gleich sympathisch gemacht hat. Ein wenig lag es auch an der jungen Frau, die mir die Eintrittskarte für 14 Lewa (sieben Euro) verkaufte. Ihre Bemerkung auf “freie Platzwahl” nahm ich als Hinweis darauf, dass ich möglicherweise der einzige Besucher sein könnte. Dem war nicht so, am Ende waren knapp 50 Zuschauer im Saal. Ganz anders in Berlin, wie mir ein Berliner Freund und Filmemacher schrieb. Er hat den Film vor zwei Wochen im Delphi gesehen zusammen mit knapp 1.000 Leuten. Sein Fazit war dieses: “Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie die Menschen im Kino die Widerständler lieben, während sie im wirklichen Leben selber immer versuchen mit dem Arsch an die Wand zu kommen. Und das ihnen dieser Widerspruch nie in den Sinn kommt.” – Solche Überlegungen hatte ich im Kino in Sofia nicht. Im Gegenteil, ich habe an die anderen Zuschauer im Saal keinen Gedanken verschwendet. Ich war fasziniert von der Gradlinigkeit Bob Dylans, insbesondere am Anfang seiner Karriere, also in den Jahren von 1961 bis 65, um die es in dem Film geht. Er hat sich nicht beeindrucken lassen von anderen bekannten Musikern, beispielsweise von Joan Baez. Im Gegenteil, er hat ihre Eitelkeit und Selbstverliebheit bloßgestellt. Vermutlich auch in dem Song, der dem Film seinen Namen gibt, und den ich wörtlich nehme. Wie fühlt es sich an, plötzlich ganz alleine zu sein, ohne Rückfahrkarte in die Heimat, ein völlig Unbekannter? Die Antworten habe ich nicht bei Bob Dylan sondern bei Friedrich Nietzsche gefunden: “Schreien wirst du einst ‘Ich bin allein!’ und ‘Alles ist falsch!’“ – Vermutlich hat der Film wegen dieser Bloßstellung keinen einzigen Oscar gewonnen. Sehenswert ist er trotzdem. Ich würde sogar sagen, dass er ein Muss ist!

Chaos und Anarchie

Bisher stand eher das Positive an Bulgarien im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Es ist an der Zeit, sich den negativen Seiten zu widmen. Dazu muss man wissen, dass meine Ecke, der Nordwesten, die ärmste Region nicht nur Bulgariens, sondern ganz Europas ist. Im Rest des Landes sieht es meist etwas anders aus. Meinen Alltag muss man sich vorstellen, dass ich permanent von alten Menschen und von Verfall umgeben bin. Vieles erinnert an ein Land nach einem verlorenen Krieg. Das führt dazu, dass so einiges nicht funktioniert, wie es funktionieren soll. Ein Phänomen, dass sich auch in der Heimat immer mehr ausbreitet. Ich denke da zum Beispiel an die Berliner Stadtautobahn, wo offensichtlich auch ein Krieg verloren ging, und zwar der gegen den Verschleiß, und wo deswegen laut Berliner Zeitung jetzt “Chaos und ein bisschen Anarchie” herrschen.

In Bulgarien sind Chaos und Anarchie Alltag. Hier ein Beispiel. Bei meiner Rückfahrt gestern von Sofia, wo ich im Kino war, sah es am und im Zug zunächst so aus wie oben. Schmutz überall, nichts war irgendwie heil, ein Wunder, dass der Zug überhaupt noch fuhr. Keine fünf Kilometer weiter musste umgestiegen werden. Der Grund sind Bauarbeiten zwischen dem Hauptbahnhof und Sofia Nord. Von dort ging es vergleichsweise zivilisiert weiter. Nicht nur der Energiedrink und die kleine Wodka-Flasche wurde herausgeholt, sondern auch der Blumentopf. Nicht nur der Deutsche, sondern auch der Bulgare macht es sich gerne gemütlich, selbst und gerade mitten im Chaos. Definitiv etwas, was man vom Bulgaren lernen kann, wenn man nicht zuvor in eine Depression gefallen ist. Da muss man höllisch aufpassen, diese Gefahr lauert immer und überall.

Grenzerfahrungen mit Wolfgang Wodarg

Gestern habe ich mit Wolfgang Wodarg gesprochen, Autor des obigen Spiegel Bestsellers. Genau genommen habe ich über Bulgarien erzählt und Wolfgang Wodarg hat meine Ausführungen mit seinen Erfahrungen aus Griechenland ergänzt. Das war eine schöne Erfahrung, aber beileibe keine Grenzerfahrung. Grenzerfahrung ist der Titel der 240. Sitzung des Corona Ausschusses, in dessen Rahmen mein Gespräch mit Wolfgang Wodarg stattfand, das von Viviane Fischer moderiert wurde. Der Titel Grenzerfahrung wurde, so denke ich, aus zweierlei Gründen gewählt. Zum Einen weil sich Bulgarien an der Außengrenze der EU befindet. Im Mittelalter wurde ein solches Grenzgebiet auch Mark genannt, beispielsweise die Mark Brandenburg. Grenzgebiete sind immer anders, womit wir beim zweiten Punkt wären, den ich auch schon mehrfach hier erwähnt habe. In der heutigen Grenzmark Bulgarien ist vieles nicht nur anders als in Deutschland, sondern einiges sogar genau umgedreht. Was genau ich meine, erfährst Du aus dem, was ich Viviane Fische und Wolfgang Wodarg in der 240. Sitzung des Corona Ausschusses mit dem Titel Grenzerfahrung ab Minute 30 etwa gesagt habe. Du kannst einfach Vorspulen und musst auch kein Geld bezahlen. Es lohnt sich!

“Heilige Kühe”

“Heilige Kühe” ist der Titels eines Romans und einer „Offenen Lesebühne für >verbotene< Texte”. Für Samstag hat Autor und Organisator Dennis Hoffman einen Coup in Neukölln geplant.

Wer nach einem Ort sucht, an dem zwar keine „Heiligen Kühe“ geschlachtet, aber immerhin gängige Narrative in Frage stellen kann, ist im „Laidak“ in Neukölln bestens aufgehoben. Obwohl ich 25 Jahre Taxifahrer in Berlin war, kannte ich die Lokalität nicht, bis ich im vergangenen Jahr den Stammtisch einer bekannten Investigativjournalistin besuchte. Ausgerechnet ich, als trockener Alkoholiker, besuche einen Stammtisch. Andererseits hatte ich selbst schonmal einen Stammtisch. Aber das ist viele Jahre her.

Bei besagtem Stammtisch fiel mir ein Flyer in die Hände, der einlud zur Lesebühne „Heilige Kühe“ – Die offene Lesebühne, für >verbotene< Texte, an jedem zweiten Sonntag des Monats, im „Laidak“ am Boddinplatz in Berlin-Neukölln, nächster Termin: 13. Oktober 2024.

Ich war gespannt, was mich erwartet. Meine Beziehung zu Neukölln ist speziell. Meine Mutter ist in Neukölln geboren, unsere West-Pakete kamen von hier. Ein Tag, nachdem die Mauer fiel, war ich am Absendeort in der Friedelstraße kurz vorm Hermannplatz. Das „Laidak“ liegt nur einen Steinwurf entfernt.

Der Raum ist klein, in dem die Lesebühne stattfindet, aber gemütlich. Ausgestattet ist er mit alten Möbelstücken: unterschiedliche Tische, Stühle und Sessel. An den Wänden Bücherregale. Es gibt ein großes Fenster zur Straße, das aber Größtenteils zugehängt ist. Durch eine Faltschiebetür ist die Räumlichkeit nur unzureichend von der eigentlichen Kneipe getrennt. Es passiert immer wieder, dass Leute durchlaufen, um zu den Toiletten zu gelangen. Es ist der kürzeste Weg zu ihnen, den Gang hinterm Tresen entlang.

Der Anzahl der Menschen, die zur Lesebühne kommen, ist überschaubar. Ich war insgesamt dreimal da und die Zahl schwankte zwischen acht und knapp 20 Vorlesern und Zuhörern. Jedesmal habe ich einen eigenen Text vorgetragen, was eine Premiere für mich war. Dass alles gut ging, lag auch am Initiator der Lesebühne Dennis Hoffmann. Dennis ist ein aufgeräumter offener Mann, der praktisch alles kann. Nicht nur schreiben, sondern auch Handwerkern.

Bei meinem ersten Besuch war er gerade dabei das Mikro aufbauen und den Lautsprecher anzuschließen. Nach einem kurzen Kennenlernen ging es auch schon los. Dennis begrüßte seine Gäste, danach wurde als erstes ein Text aus seinem Roman „Heilige Kühe“ gelesen. Und da ging es auch gleich zur Sache. Eine junge Frau las genau die Stelle vor, in der es um den israelischen Historiker Yuval Harari geht.

Laut Harari seien es die Geschichten, die die Realität formen. Nicht der gewinne, dessen Geschichte echt oder wahr ist, sondern immer die beste Geschichte. Wörtlich sagt Harari: „Wahrscheinlich ist die Fiktion die wirkmächtigste Kraft des 21.Jahrhunderts“. Nicht bei jeder Lesung wird aus „Heilige Kühe“ vorgelesen, sondern auch aus Wilhelm Reich und Henry Miller. Danach ist die Lesebühne eröffnet. Jeder, der will, kann einen Text vortragen, egal ob verboten oder nicht. Es besteht auch die Möglichkeit, fremde Texte vorzulesen oder Texte anonym vorlesen zu lassen. 

Die Geschichte mit Harari hat mich neugierig gemacht auf den Roman „Heilige Kühe“, den Dennis im Eigenverlag herausgegeben hat, weil kein Verlag ihn herausbringen wollte. Ich hatte schon davon gehört gehabt, dass Autoren gesellschaftskritischer Romane es gerade besonders schwer haben, diese zu veröffentlichen, denn sie finden praktisch keinen Verlag.

Das Eingangszitat des Philosophen Wittgenstein, „Dass morgen die Sonne aufgeht, ist eine Hypothese“, hat mich sogleich für den Roman eingenommen. Keine Sorge, es werden keine heilige Kühe geschlachtet, sondern „nur“ gängige Narrative in Frage gestellt, allen voran das Corona-Narrativ. Trotzdem ist Vorsicht geboten, denn das Infragestellen macht den Hauptprotagonisten, einen Berliner Holzbildhauer, immer einsamer. Er muss wirklich aufpassen, dass er am Ende nicht ganz alleine (und ohne Sex) dasteht.

Neben Harari kommen die Matrix, Chemtrails, Chomsky, Relotius, Dostojewski, eine Bumspartnerin und die krebskranke Mutter des Holzbildhauers in dem 340 Seitigen Roman vor. Wer Corona nicht mehr hören kann, wird möglicherweise von der Mutter-Sohn-Geschichte berührt. Zumindest ging es mir so, auch wenn ich den Vater vermisst habe, der wie so oft abwesend war. Der Hauptprotagonist fasst seine Odyssee durch zahlreiche Verschwörungstheorien so zusammen, dass sie sein Weltbild relativiert und sein Denken befreit haben: „Alles war wieder rätselhaft offen“.

Offen ist die Frage, ob Dennis’ Geschichte die beste über die Corona-Zeit ist, oder ob sie einfach „nur“ wahr, sprich echt ist. Offen auch, was genau >verbotene< Texte sind. Diese Frage wird bei jeder Lesung immer wieder aufs Neue diskutiert. Dass es die Lesebühne bis heute gibt, interpretiere ich so, dass offensichtlich noch nicht alles verboten ist.

Ansonsten würde es diesen Samstag kein „Heilige Kühe Spezial“ im „Laidak“ geben. Dennis ist diesmal ist ein Coup gelungen, denn die „Offene Lesebühne für >verbotene< Texte“ präsentiert an diesem Tag Werner Köhnes „Zur Ästhetik des Widerstands – 200 Versuche, die Welt nach Corona erzählbar zu machen.“

Laut Eigenwerbung feiert der gestandene Sloterdijk-Gegenspieler (in jungen Jahren soll er Nachhilfe-Lehrer von Fr* Merz gewesen sein), Buchautor, Arte- sowie ZDF-Dokumentarfilmer und Philosoph Werner Köhne seine Buchpremiere. Geplant sind eine Lesung und Diskussion mit der früheren Volksbühnen-Chefdramaturgin Gabriele Gysi (Autorin des Vorworts), dem Berliner Verlagshaus „Sodenkamp & Lenz“ und Gästen.

Da ich in Bulgarien bin, kann ich am Samstag, den 22. März 2025, nicht ins „Laidak“ in die Boddinstraße 42 kommen. Dennis schreibt über das „Lesebühne Spezial“, dass es um Punkt 17 Uhr losgehen würde, und dass Einlass nur solange ist, wie Plätze vorhanden sind. Wäre die Lesung in Bulgarien, würde ich es mit „Punkt 17 Uhr“ nicht so genau nehmen. In Berlin und da selbst in Neukölln bin ich mir dessen nicht so sicher.

Es ist so eine Zeit …

Es ist so eine Zeit, wo Menschen ganz verrückte Sache machen. In der Heimat beispielsweise sind viele für Krieg, an die Front wollen sie aber nicht. Andere wiederum wenden sich Gott zu. Ich gehöre in gewisser Weise zu ihnen, denn bei den Anonymen Alkoholikern spielt Gott eine nicht ganz unbedeutende Rolle, auch wenn er dort gerne eine “eine höhere Macht” genannt wird. Mich erinnert unsere Zeit an 1989. In der Heimat sind viele damals dem Mammon hinterhergerannt. Nicht so auf dem Balkan. Hier hat man sich eher Gott zugewandt. Man hatte ja auch nichts anderes. Manche hatten nicht mal genug zu essen. So ist es keine Überraschung für mich, dass sich aktuell in Rumänien ähnliches wiederholt. In der Heimat erfährt man darüber kaum etwas, obwohl das ZDF genau wie ich letzten Dienstag in Bukarest war. Deswegen mein neuer Beitrag “Kein Politiker-Sprech” auf Medien+ von Michael Meyens “Freier Akademie für Medien & Journalismus”.