Bericht aus Bulgarien (114)
Nicht nur meine Texte sind eine Art Notwehr, sondern auch meine Fotos. Denn ich musste nicht nur schlimme Berichte über Demonstrationen in Berlin lesen, auf denen ich selbst zugegen war, die mit dem, was ich dort gesehen habe, rein gar nichts zu tun hatten. Sie waren offensichtlich im Home-Office geschrieben, möglicherweise schon vor der Demonstration.
Nein, meine Augen mussten auch schlimme Fotos sehen, mit denen es sich allerdings etwas anders verhielt. Sie stammten in den allermeisten Fällen wirklich von der Veranstaltung, waren aber vom Fotografen bewusst falsch ausgewählt worden.
Dass man mit Bildern Menschen manipulieren kann, das wusste ich schon vorher. Seitdem ich selbst von Demonstrationen hier in Bulgaren berichte und dazu auch Fotos beisteuere, weiß ich auch aus eigener Erfahrung, wie leicht ich dem Geschehen mit meinen Bildern eine ganz andere Richtung geben könnte, wenn ich es denn wollte.
Ich meine jetzt nicht die Holzhammermethode der taz- und Tagesspiegel-Fotografen, die sich darauf spezialisiert haben, hysterisch kreischende Frauen oder einen die USA-Flagge (der Präsident hieß damals noch Trump) schwenkenden möglicherweise bezahlten Alkoholiker, mit einem Wort: Freaks, auf dem Rosa-Luxemburgplatz zu fotografieren. Dass 99,9 Prozent der Teilnehmer ganz normale Menschen waren und bis heute vermutlich sind, auch wenn die Demonstrationen jetzt Spaziergänge heißen (Bulgaren glauben mir nicht, wenn ich davon erzähle, halten es für einen Witz), davon ist auf den Bildern nichts zu sehen gewesen. Der Fotograf hat aus der Demo eine Freak-Show gemacht, und zwar ganz bewusst.
Man kann, wenn man sein Handwerk versteht, viel feiner arbeiten. Ein Profi-Fotograf macht nicht nur ein Foto, sondern immer mehrere, meistens fünf bis zehn. Man hört das an dem Klicken der Kamera, die heute zwar alle digital, aber in der Regel noch Spiegelreflex sind. Jedes Hochklappen des Spiegels macht nicht nur ein Foto, sondern verursacht darüber hinaus das Klick-Geräusch. Will ich einen Person negativ erscheinen lassen, wähle ich das Foto, auf dem zum Beispiel seine Mundwinkel nach unten hängen oder noch besser: auf dem er böse blickt. So würde es ein richtiger Profi machen.
Auch ich stehe bei der Auswahl meiner Bilder ein jedes Mal aufs Neue vor dieser Wahl. Und ich frage mich selbst, wenngleich eher rhetorisch, immer wieder aufs Neue: Worum geht es eigentlich? Geht es darum, aus der Demo eine Freak-Show zu machen? Eine Freak-Show verkauft sich immer gut, und auf jeden Fall besser als normale Menschen. Außerdem passt es zur offiziellen Agenda, dass diese Menschen böse sind. – So dürften die Hobby-Fotografen in der Heimat ticken, die Fotos für die taz und den Tagesspiegel machen.
Ich habe keine Agenda. Ich kann das umsetzen, was ich viele Jahre lang in meinem Taxi praktizieren durfte, wofür ich dem Taxifahren und meinen Fahrgästen dankbar bin. In meinem Taxi konnte man zwar nicht telefonieren, dafür aber alles sagen – sogar die Wahrheit. Ich habe mir jeden angehört, aber vor allem habe ich nicht alles sogleich bewertet – die eigentliche Herausforderung, weil ich verstehen wollte, warum jemand so tickt, wie er eben tickt. DIE richtige Haltung, die es so wenig gibt wie DIE Wahrheit und DIE Wissenschaft, habe ich von keinem meiner Fahrgäste erwartet oder gar eingefordert. (Im bulgarischen Nationalradio „Christo Botew“ gibt es bis zum heutigen Tag eine Sendung mit dem Namen „Politisch Unkorrekt“ – in Deutschland ein Unding.)
Vor allem deswegen muss ich heute keine Freaks fotografieren, die es auf jeder Demo gibt, so wie es auf jeder Veranstaltung einen Idioten und in jeder Gruppe einen Spinner gibt, die aber nicht der Durchschnitt sind. Ich kann aber auch deswegen mit meinen Fotos zeigen, was meine Augen gesehen haben, weil keine Zeitung von mir die richtige Haltung erwartet oder gar einfordert. Ich habe also nicht das Problem der taz- und Tagesspiegel-Fotografen, eventuell keine Aufträge und damit auch kein Geld zu bekommen, um meine Miete zu bezahlen oder meine Kredite bedienen zu können.
Da in Bulgarien hängende Mundwinkel und böse Blicke eher die Ausnahme sind, es scheint sich dabei erneut um ein deutsches Phänomen zu handeln, das in Berlin besondere Blüten treibt, weil dort alle ganz besonders cool und abgebrüht sein wollen, obwohl sie in Wirklichkeit nur einsam und verbittert sind, muss ich darauf praktisch gar nicht achten. Sollte jemand wirklich mal nicht so freundlich blicken wie beispielsweise der eine Polizist, so könnte ich tausend Fotos von ihm machen und er würde immer noch genauso böse blicken, auch wenn er in Wirklichkeit ein netter Typ ist.
Auch Polizisten auf den Demonstrationen in Bulgarien zu fotografieren, war für mich sehr wichtig, weil sie so ganz anders sind als die Polizisten, die ich in der Heimat gesehen habe. Nicht nur, weil sie keine Kampfausrüstung tragen, sondern vor allem weil sie nicht wie ferngesteuerte Kampfmaschinen durch die Gegend laufen. Der Polizist in Deutschland ist mehr Maschine als Mensch, ganz im Gegensatz zu seinem bulgarischen Pendant aus Fleisch und Blut. Im Normalfall gehören die allermeisten Polizisten hier zur übergroßen Mehrheit, die die Forderungen der Demonstrierenden unterstützen.
Die bulgarischen Polizisten, die ich auf allen bisherigen Demonstrationen gesehen habe, machen Dienst nach Vorschrift – nicht mehr und nicht weniger. Also das, wofür sie vom Steuerzahler bezahlt werden. In Bulgarien stürzen keine Gruppen behelmter Polizisten in Kampfmontur aggressiv in friedlich demonstrierende Menschenmassen, um dort Angst und Schrecken zu verbreiten, wie ich es nur allzu oft in Berlin erlebt habe. Ich habe mich schon lange nicht mehr so frei und unbedroht auf einer Demonstration gefühlt wie hier in Bulgarien. Ich wünschte, jeder in Heimat könnte nur einmal auf einer hiesigen Demonstration dabei sein.
Sämtliche Fotos stammen von der Demonstration am 6. April in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Aufgerufen hatte sowohl die Partei „Wiedergeburt“, als auch eine Initiative, die sich „Gesamtbulgarischer Marsch für Frieden und Neutralität“ nennt. Da beide Demonstrationen zur selben Zeit und am selben Ort genehmigt wurden, lässt sich nicht genau sagen, wer von den 5.000 Demonstranten vor dem bulgarischen Parlament welchem Aufruf zum Protest gefolgt ist. Alle vertraten sie dieselbe Forderung: Neutralität im Ukraine-Krieg. Eine Anfang April vom Fernsehsender bTV in Auftrag gegebenen Umfrage ergab, dass 67 Prozent der Bulgaren diese Forderung befürworten. Nur 16 Prozent sind der Meinung, dass ihr Land die Ukraine aktiv mit Waffen unterstützen sollte.
Ich kenne die aktuellen Zahlen dazu in der Heimat nicht. Deutschland ist für mich nach fast einem Jahr in Bulgarien weit weg. Was ich gehört habe, ist, dass die Mehrheit zu hause immer noch eine Maske trägt, obwohl dies auch dort schon seit einiger Zeit nicht mehr nötig ist. Dass eine Maske praktisch kaum einen Effekt hat, das ist schon lange bekannt. Dass Menschen sie in der Heimat immer noch tragen und denen, die sie nicht tragen, böse Blicke zuwerfen, weiß ich unter anderem von dem Freund, der mich neulich für eine Woche besucht hat, und der auch deswegen die Zeit hier genossen hat.
In Bulgarien tragen nur noch ganz wenige Menschen eine Maske, man kann sie praktisch an einer Hand abzählen, das ist auch auf den Fotos zu sehen. Maskenträger werden aber nicht komisch und schon gar nicht böse angesehen, sondern man lässt sie so sein, wie sie sind, so wie der Bulgare praktisch jeden so sein lässt, wie er eben ist. Das war etwas, was mein Freund sehr genossen hat hier. Ich habe ihn gebeten, darüber zu schreiben, was ihm darüber hinaus noch bei seinem Besuch in Bulgarien aufgefallen ist, weil ich mir vorstellen kann, dass das für Leser in Deutschland von Interesse ist. Er hat mir versprochen, es zu tun, mich aber um etwas Zeit gebeten, um seine Eindrücke sacken zu lassen, so wie der Leser meines Blog auch meine Fotos erst einmal sacken lassen sollte.
Wäre er hier, hätte er dafür auch die Zeit, denn in Bulgarien ist erst diese Woche Ostern. Im Moment liegt im Gebirge über 600 Meter noch etwas Schnee, der Winter ist aber auch auf dem Balkan auf dem Rückzug. In meinem Dorf ist das Zentrum und die dortige Mineralquelle, an der jeden Tag viele Durchreisende ihr Wasser abfüllen, mit grünen Zweigen geschmückt, an denen bunte Ostereier hängen. Ich erwähne das auch, weil ich jetzt dorthin, also Downtown, gehen werde, um diesen Beitrag und die Bilder zu veröffentlichen, denn am Bürgermeisteramt gibt es kostenloses Internet.
Danach würde ich normalerweise zu meinem Mineralbad in den Wald gehen, wie ich es auch mit meinem Freund getan habe, und dem das gemeinsame Baden in der Wildnis sehr gefallen hat. Obwohl auch hier Strom und Bäche vom Eise befreit sind, wird das Bad heute für mich ausfallen. Bei 5 Grad Außentemperatur im Freien zu baden, so abgehärtet bin ich selbst nach knapp einem Jahr in den Schluchten des Balkans noch nicht.
Fotos&Text TaxiBerlin