Bericht aus Bulgarien (189) – “Denken in den Schluchten des Balkans” (1)
und den drei Bestien
Auf meinen letzten Beitrag hat mich Orwell gebracht, der sich nicht nur, so wie ich, mit drei Bestien herumschlagen musste, sondern auch etwas zum Thema Wahrheit geschrieben hat. Auch ich schreibe gerne über die Wahrheit, was mir immer mal wieder vorgeworfen wird, bin dabei aber eher von Bernhard inspiriert, der gerne und oft “Das ist die Wahrheit” in seinen Büchern geschrieben hat. (Wäre interessant zu erfahren, ob in Thomas Bernhards Werken öfter “naturgemäß” oder “Das ist die Wahrheit” vorkommt, und ob “naturgemäß” überhaupt noch “zeitgemäß” ist, weil heute jeder alles und jedes sein kann und auch soll, nur nicht “naturgemäß”, also wie ihn die Natur gemacht hat.) Doch zurück zu Orwell und der Wahrheit, die dem Autor so wichtig war, dass er ein ganzes Kapitel über sie geschrieben hat, und das ich wiederum so natur- und zeitgemäß, also in unsere Zeit passend, finde, dass ich es nachfolgend komplett aufgeschrieben habe für dich:
Wahrheit
Jeder, der einmal zur Verteidigung unpopulärer Ziele geschrieben hat oder Zeuge von Ereignissen gewesen ist, die zu Meinungsverschiedenheiten führen können, kennt die furchtbare Versuchung, Tatsachen zu entstellen oder zu unterschlagen, nur weil eine ehrliche Aussage Enthüllungen enthielte, die von skrupellosen Gegnern verwendet werden könnten.
Es gibt immer ausgezeichnete, edle Gründe, die Wahrheit zu verbergen, und diese Gründe werden von Verfechtern der verschiedensten Sachen fast in denselben Worten hervorgebracht. Immer wenn A und B im Gegensatz zueinander stehen, wird derjenige, der A angreift oder kritisiert, beschuldigt, B zu helfen und zu unterstützen. Und oft stimmt es, objektiv und kurzfristig gesehen, dass er die Dinge für B tatsächlich einfacher macht. Darum, sagen die Anhänger von A, haltet den Mund und kritisiert nicht: oder, wenn ihr schon kritisieren müsst, dann wenigstens auf “konstruktive Weise”, was in der Praxis immer gleichbedeutend ist mit günstig. Und von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Folgerung, dass die Unterdrückung und Entstellung bekannter Tatsachen die höchste Pflicht eines Journalisten ist.
Wenn man nun die Welt in A und B einteilt und annimmt, dass A den Fortschritt und B die Reaktion verkörpert, ist der Standpunkt gerade noch vertretbar, dass keine Tatsache, die A schadet, je enthüllt werden sollte. Aber bevor man diese Forderung aufstellt, sollte man sich ausmalen, wohin sie führt.
Das ganze Argument, dass man nicht offen sprechen darf, weil man damit dieser oder jener unheilvollen einflussreichen Persönlichkeit “in die Hände spielt”, ist insofern unehrlich, als die Leute es nur verwenden, wenn es ihnen passt.
Hinter diesem Argument liegt immer die Absicht, Propaganda für irgendeine einzelne Interessengruppe zu betreiben und Kritiker so weit einzuschüchtern, dass sie schweigen, indem man ihnen sagt, dass sie “objektiv gesehen” reaktionär sind. Es ist ein verlockendes Manöver, und ich habe es selbst mehr als einmal benutzt, aber es ist unehrlich. Ich glaube, man ist weniger dazu geneigt, wenn man sich daran erinnert, dass die Vorteile einer Lüge immer kurzlebig sind. Wie oft erscheint es einem eine ausdrückliche Pflicht, die Fakten zu verheimlichen oder zu verfärben! Und trotzdem kann ein echter Fortschritt nur durch vermehrte Aufklärung stattfinden, was soviel bedeutet wie fortwährende Zerstörung vom Mythen.
Das Dumme ist, dass die Reaktion der Leute, wenn man sie belügt, dann um so heftiger ist, wenn die Wahrheit durchsickert, was sie letzten Endes meistens tut.
“Wahrheit” GeorgeOrwell
Foto&Text TaxiBerlin