Bericht aus Bulgarien (311) – “Wie viel muss ich wissen?

Und wie viel kann im Dunkeln oder im Nebel bleiben?

Wie viel muss ich wissen? Wie viel soll ich wissen? Wie viel Wissen ist gut für mich? – Das sind Fragen, die mich gerade umtreiben. Und sie treiben mich um, weil ich feststellen musste, dass viele Menschen, die zu tief in die Dinge eingestiegen sind, plötzlich Krankheiten entwickeln, Krebs haben, wieder mit dem Rauchen anfangen, mehr Alkohol trinken, sonstige Drogen konsumieren, andere Süchte entwickeln oder sich sogar das Leben nehmen. Für all dies gibt es Gründe, denn das, worin sie eingetaucht sind, ist alles andere als angenehm. Es geht dabei vor allem um das Wissen um Zusammenhänge, die Frage “Cui bono?”, wobei es hilfreich sein kann, der Spur des Geldes zu folgen, insbesondere wenn die Dinge auf den ersten Blick unklar erscheinen, und um die Weisheit, dass der, der nichts weiß, alles glauben muss. Dies scheint mir auf immer mehr Menschen zuzutreffen. Das ist zumindest meine Beobachtung der letzten Jahre. Jemand Kluges sagte einmal, dass es die Zeit ist, in der man krank wird oder böse. So kann man es auch formulieren. Wer lieber dumm bleiben möchte, und das möchten so einige, ist so gesehen böse zu seiner eigene Intelligenz und infolge dessen auch zu seiner Würde als Mensch. Auch der bereits erwähnte Suizid ist eine böse Handlung sich selbst gegenüber. Es ist nicht gerade leichter geworden in den letzten Jahren, herauszufinden, wie viele Menschen sich das Leben genommen haben. Wer als Toter positiv auf Corona getestet wurde, ging und geht vermutlich immer noch in die “an, mit, im Zusammenhang mit Verstorbenen” der Corona-Statistik ein. Aber taucht er auch als Suizidaler auf? Da bin ich mir nicht sicher. Auch deswegen muss ich in letzter Zeit immer öfter an “Das Leben der Anderen” denken. Die Geschichte des Films ist die, dass ein Bühnenautor in der DDR einen Artikel für den Spiegel, ausgerechnet für den Spiegel, über die von der DDR-Regierung geheimgehaltene Zahl der Selbstmörder geschrieben hat. Übertragen auf das Hier und Heute wäre das ungefähr so, als schriebe einer einen Artikel über die Anzahl der Menschen, die sich infolge von Corona das Leben genommen haben. Die nicht das Glück hatten, eine zweite Heimat zu haben, in die sie gehen konnten. Die wie ich ihre Arbeit verloren haben, die wie ich Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt waren, die keine Zukunft mehr gesehen oder auch “nur” den Druck, dem sie ausgesetzt waren, nicht mehr standgehalten haben. Es gibt diese Suizide – zweifellos. Aber wie viele sind es genau? Und will ich das wirklich wissen? Muss ich das wissen? Bin ich der richtige Mann dafür? Immerhin habe ich aus denselben Gründen, weswegen sie Hand an sich gelegt haben, das Land, das auch meine Heimat war, verlassen. Aber wenn ich morgen mitreden will, dann sollte ich es schon wissen, oder? Andererseits könnte ich auch gerade deswegen, weil ich weit weg war, der richtige sein, der zu dem Thema recherchiert, in persönliche Abgründe hinabsteigt, um genau darüber zu schreiben. Das würde dann auch die Frage danach beantworten, wie viel ich wissen muss und will. Aber was wäre danach? Würde es mich stärker machen? Oder auch krank? Oder böse? Oder gar tot, wie es mir als Ungeimpfter prophezeit wurde?

PS: Die Kneipenszene, ausgerechnet die Kneipenszene, von “Das Leben der Anderen” wurde in einer Lokalität in Berlin bei mir um die Ecke gedreht. Immer wenn ich zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen bin, musste ich an ihr vorbei. Auch deswegen, aber nicht nur, habe ich immer noch diesen Film in meinem Kopf, obwohl ich nun schon seit eineinhalb Jahren in Bulgarien lebe.

Foto&Text TaxiBerlin

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