Bericht aus Bulgarien (33)

Zugfahrplan der nächstgrößeren Stadt

Vorgestern ist eine Frau von dreißig Jahren in der Notaufnahme der nächstgrößeren Stadt verstorben, dessen Einwohner ich vor vielen Jahren einmal war. Jemand hat mit seinem Smartphone gefilmt, wie sie im Wartebereich zusammenbricht, und diese Bilder ins Internet gestellt. Bilder, die ich bisher nur aus den USA kannte. Jetzt also auch Bulgarien. Die Tragödie hat für ziemliches Aufsehen im Land gesorgt. Gestern gab es eine Demonstration von Einwohnern der Stadt vor dem Krankenhaus. Die Opposition im Bulgarischen Parlament in Sofia fordert, der Gesundheitsminister möge zurücktreten. In der Notaufnahme hat eine Untersuchung des Vorfalls begonnen.

Anfangs wollte ich nicht über die Geschichte schreiben. Ich wollte deswegen nicht darüber schreiben, weil ich mir die Reaktionen in Deutschland vorgestellt habe: Was sind das doch für Barbaren, diese Bulgaren, und so weiter. Ich erwähne jetzt nicht noch einmal, dass viele Bulgaren, von den 20- bis 45-jährigen ist es jeder zweite, im Ausland arbeiten und darunter auch einige Krankenschwestern. (In Deutschland gehören sie vermutlich zu dem Pflegepersonal, das sich hat impfen lassen, aber weniger, weil man von der Impfung überzeugt ist, sondern an erster Stelle, um auch weiterhin ein sicheres und vor allem besseres Einkommen zu haben als in Bulgarien, wo oft die Familie noch unterstützt, ihr Überleben gesichert wird.) Ich persönlich fühle mich, und das sage ich auch als examinierter Krankenpfleger, was die medizinische Versorgung angeht, spätestens seit Corona in Bulgarien besser aufgehoben als in Deutschland, wo viele Ärzte Ungeimpfte nicht mehr behandeln.

Ich komme darauf, weil bisher nicht bekannt ist, ob die Frau, die in der Notaufnahme der nächstgrößeren Stadt verstorben ist, geimpft oder ungeimpft war. Die Frage, die in Deutschland vermutlich als erstes aufgetaucht wäre, wurde hier nicht einmal gestellt. Da in Bulgarien gerade einmal 30 Prozent geimpft sind, gehe ich davon aus, dass sie wahrscheinlich eher ungeimpft war. In Deutschland wäre vermutlich das der Skandal: Wie kann eine Umgeimpfte es wagen, überhaupt eine Notaufnahme zu betreten! Und das völlig unabhängig davon, ob sie an Corona erkrankt ist oder nicht. Und genau dieses deutsche Denken ist für mich wiederum krank. Mindestens genauso krank wie die Frau, die in der Notaufnahme verstorben ist, wenn nicht gar kranker. Der Unterschied ist, die Frau hat gemerkt, dass sie krank ist. Krankes Denken verursacht keine Schmerzen.

Foto&Text TaxiBerlin

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