Leaving Berlin (040)

Mein Sauerteig

Ich habe eine neue Leidenschaft: das Brot backen. Der Grund dafür: man kann das einst hervorragende Weißbrot der Bulgaren nicht mehr essen. Mittlerweile bin ich bei der Königsdisziplin des Brotbackens angelangt: dem Sauerteig. Wer hätte das gedacht? Dass es so ist, wie es ist, habe ich auch meiner Abstinenz zu verdanken. Sie soll das Thema dieses Beitrags sein. Heute sind es sechs Jahre, dass ich keinen Alkohol mehr getrunken habe. Ich habe sozusagen Geburtstag – Trockenheits-Geburtstag. Ich möchte auch über meine Abstinenz schreiben, weil ich bei meinem Besuch in Berlin feststellen musste, dass sich die Menschen dort jetzt noch mehr betäuben als zuvor. Mit anderen Worten: die Süchte haben zugenommen. Nicht nur der Alkohol. Kiffen ist neuerdings sogar staatlich erwünscht, um es mal so zu formulieren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es bei den “Genussmitteln” meist nicht ums Genießen geht. Dann könnte man ja einfach damit aufhören. Aber sag das mal einem Raucher. Was die Leute “Genießen” nennen, ist in den meisten Fällen ein Leiden. So war es auch bei mir. Dass ich lange nicht aufhören konnte mit dem Trinken, lag auch daran, dass ich mir ein Leben ohne Alkohol, vor allem ohne meine geliebtes Bier, nicht vorstellen konnte. Jetzt weiß ich, dass es möglich ist, ohne Alkohol zu leben. Und auch ohne Nikotin. Mit dem Rauchen habe ich schon vor über 20 Jahren aufgehört. Auch Du kannst damit aufhören. Sowohl mit dem Trinken, als auch mit dem Rauchen – vielleicht nicht mit beidem zur selben Zeit. Das schaffen die wenigsten. Aber vielleicht solltest Du jetzt zumindest mit einem aufhören, denn die Zeiten werden rauer. Am Ende gibt es nicht genug Alkohol, um Dich zu betäuben. Für einen Alkoholiker ist ein Glas zu viel und tausend nicht genug. Du zerstörst mit dem Alkohol nur Dich selbst. Auch ich war auf dem Weg, mich selbst zu zerstören. 2017 tauchten die ersten für Uber fahrenden Mietwagen auf den Berliner Straßen auf. Ich erwähne das, weil mir als Taxifahrer rasch klar war, dass da etwas auf mich zukommt, dass ich vielleicht sogar meinen Job verlieren werde, wie es dann auch kam. Bevor es so kam, habe ich mit dem Trinken aufgehört. Wie viele, so dachte auch ich, dass es damit getan sei. Die eigentliche Arbeit begann aber erst danach. Plötzlich kamen all die Gefühle hoch, die ich zuvor mit dem Alkohol betäubt hatte. Um mit ihnen klar zu kommen, bin ich zu den Meetings der Anonymen Alkoholiker gegangen, um über meine Gefühle zu sprechen. Jemand sagte mal, dass er am Anfang dachte, die hätten bei den Meetings alle einen drinne, womit er den Alkohol meinte, weil die alle so komisch sprechen würden, womit er gar nicht so unrecht hatte. Auf Außenstehende muss das genauso wirken. Wir haben nicht gelernt, über unsere Gefühle zu sprechen. Überhaupt reden wir meist nicht über uns, wie es uns geht, in dem Moment. Lieber sprechen wir über andere, über Corona und jetzt Krieg. Dass erwachsene Menschen wie kleine Kinder lernen müssen, über ihre Gefühle zu sprechen, ist bedauerlich, aber die Wahrheit. Viel habe ich von anderen auf den Meetings gelernt. Denn zu ihnen gehen auch Menschen, die seit vielen Jahren trocken sind. Manche sind bereits mehr als ihr halbes Leben trocken und gehen immer noch zu den Meetings. Ihre Erfahrungen mit und ohne Alkohol sind ein unbezahlbarer Erfahrungsschatz. Bis heute empfinde ich eine große Dankbarkeit für alles, was ich bei den Meetings hören durfte. Ich bin seither sehr demütig geworden. Diese Demut hilft mir auch beim Brot backen. Denn man muss dem Teig, insbesondere dem Sauerteig, zuhören, was er einem sagen will. Was er braucht, damit aus ihm ein geschmackvolles Brot wird. Das ist mein erstes Sauerteigbrot, ich habe es gestern Abend gebacken. Es ist nicht perfekt, aber für’s erste Mal bin ich sehr zufrieden.

Fotos&Text TaxiBerlin

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