Leben in Zeiten von Corona – Heute: Mein derzeitiges Dilemma
Maulkorb oder Schutzmaske?
Mein derzeitiges Dilemma ist nicht, dass ich seit zehn Monaten ein Trockener Taxifahrer ohne Fahrgäste bin. Mein derzeitiges Dilemma ist auch nicht, dass ich kaum noch ein Einkommen und kein Trinkgeld mehr habe, von dem ich bisher meine Brötchen bezahlt habe, und dass ich möglicherweise demnächst auf der Straße sitze. Das sind alles bestenfalls Luxusprobleme, aber nicht mein derzeitiges Dilemma. Mein derzeitiges Dilemma ist, dass ich es in meinem Taxi so gehalten habe, dass ein jeder alles sagen durfte, sogar die Wahrheit, und ich mir wirklich auch alles angehört habe, ohne es sogleich zu bewerten, was üblicherweise sofort passiert, weil wir so konditioniert sind. Ich habe Jahre gebraucht, um mir dies abzutrainieren, weil mich immer viel mehr interessiert hat, warum jemand so tickt, wie er tickt, als nur zu erfahren, wie er tickt, um ihn sogleich in eine Schublade tun zu können. Die Situation im Taxi, die es für mich als Trockener Taxifahrer so nicht mehr gibt, war insoweit eine besondere, dass der Fahrgast sicher sein konnte, dass er mich kein zweites Mal sieht, weswegen er immer einen Tick ehrlicher zu mir sein konnte, als zu Menschen, die er regelmäßig trifft und auch zu Freunden. Im Normall war er aber nicht nur ehrlicher zu mir, sondern wollte auch meine ehrliche Meinung wissen, so dass ich gerne auch von einem Austausch spreche. Diesen Austausch gibt es heute in der Form nicht mehr, und das ist das derzeit Schlimmste für mich, aber immer noch nicht genau mein Dilemma. Die Situation heute ist die, dass mir Leute immer noch ihre Meinung sagen und manchmal auch ihr Herz ausschütten. Der Unterschied zu früher bei mir im Taxi ist der, dass keiner mehr meine Meinung wissen will. Im Normalfall wollen die Leute verstanden oder gar bestätigt werden, manche wollen auch einfach nur ihren Müll bei mir abladen, aber niemand fragt mich nach meiner Meinung. Im Taxi hatte ich es mir angewöhnt, meine Meinung nur zu sagen, wenn ich danach gefragt wurde, was meist der Fall war. Nun frage ich mich, wie ich damit umgehen soll, wenn mich niemand mehr nach meiner Meinung fragt. Genau das ist mein derzeitiges Dilemma, aus dem möglicherweise Rousseau einen Ausweg wusste, der meinte, dass er sich nicht erlauben würde, Menschen zu belehren, wenn andere sie nicht irregeführt hätten. Aber ist das auch mein Weg? Ich weiß es ehrlich gesagt bis heute nicht.
Foto&Text TaxiBerlin