Leben in Zeitlupe

Am Mittwoch war ich in Sofia, wo die Aufnahmen des heutigen Beitrags entstanden sind. Obwohl Sofia die Hauptstadt Bulgariens ist, verläuft das Leben dort eher in Zeitlupe. Ich hatte überlegt, als Journalist in die Volksversammlung zu gelangen, die von den netten Herren oben bewacht wird, um den Volksvertretern bei dem Versuch eine Regierung zu bilden zuzuschauen, besser zuzuhören. Da aber auch im bulgarischen Parlament viel blah blah gequatscht wird, entschied ich mich dagegen. So machte ich das, was ich immer mache, wenn ich in Sofia bin. Ich laufe durch die Stadt, schaue mir an, wie sie sich verändert hat, mache Fotos und suche Orte der Erinnerung auf. Später am Tag erfuhr ich im Radio, was ich mir bereits gedacht hatte. Die Aussprache im Parlament hat nichts gebracht, es wird auch nach der letzten Wahl am 9. Juni, an der sich sowieso nur 32 Prozent der Bulgaren beteiligt hatten, keine Regierung in Bulgarien geben. Entweder gibt es bald wieder Wahlen, oder Bulgarien wechselt von einer parlamentarischen Demokratie zu einer Präsidialdemokratie. Ich persönlich hätte nichts dagegen, und das nicht nur, weil der Präsident denselben Vornamen hat wie ich. Wichtiger ist mir, dass er gegen jegliche Waffenlieferungen an die Ukraine ist. Rumen Radew hat von Anfang an vorgeschlagen, diesen Krieg durch Verhandlungen zu lösen und nicht auf dem Schlachtfeld, wenn es nicht der letzte gewesen sein soll.

Passend zum bevorstehenden Krieg in Europa, der möglicherweise schon begonnen hat, dieses Motto genau an dem Ort, wo einst das Georgi Dimitroff Mausoleum stand. Übersetzt ins Deutsche steht dort: “Die Zukunft, die schon gewesen ist”. Genau mein Gefühl, das ich angesichts täglich zunehmender Déjà-vus seit einiger Zeit habe. Es kommt mir immer öfter so vor, als hätte ich all das, was gerade geschieht, schon einmal erlebt, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Nietzsche nannte das Phänomen die ewige Wiederkehr des Immergleichen.

Zwei Obdachlose und drei Bettler habe ich an meinem Tag in Sofia gesehen. In der Vergangenheit war es jeweils einer weniger. Ihre Zahl hat also auch in der bulgarischen Hauptstadt zugenommen und nicht nur in Berlin. Obige Frau kenne ich seit vielen Jahren vom Sehen. Sie lebt in der Unterführung direkt vor der Botschaft Rumäniens. Bisher schlief sie eher unbequem auf den Stufen. Ihre Situation hat sich offensichtlich verbessert.

Die beiden Herren auf obiger Bank sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch Vater und Sohn Slaweijkow. Die Bank steht auf dem Slaweijkow Platz im Herzen der bulgarischen Hauptstadt. Ursprünglich gab es auf dem Platz den besten Buchbasar Bulgariens. Vor einigen Jahren hat man den Platz saniert, besser sterilisiert, also tot saniert. Seither gibt es keinen Buchbasar mehr auf ihm, was meinem alten Freund Waskow, der dort seinen Stand hatte, das Herz gebrochen hat. Es hat ihn krank gemacht, bald darauf ist er gestorben. Meine eigentliche Idee war, mich auf die Bank neben den beiden Schriftstellern zu setzen und ein Selfie zu machen. Ich bin jetzt auch einer von denen geworden, die Selfies machen. Da die Bank bereits besetzt war, kam es zu diesem Foto.

Das Selfie habe ich später an der Staue dieses netten Herrn gemacht. Auch er ein Autor, aber nicht irgendeiner. Sein Name ist Aleko Konstantinow. Er steht am Ende des Boulevard Vitosha, eine Art Unter den Linden, den Blick Richtung Vitosha Gebirge. Aleko hat die bulgarischen Gebirge geliebt, nicht umsonst gilt er als Gründer des ersten und einzigen bulgarischen Wandervereins. Er ist aber auch viel gereist, beispielsweise nach Chicago. Sein Buch “Nach Chicago und zurück” führte dazu, dass Chicago die zweitgrößte Bulgarische Stadt nach Sofia ist. Es sollen bis zu 300.000 Bulgaren in Chicago leben. Auch eine Straße ist in Chicago nach Aleko benannt.

Später sollte ich noch diese ganz aktuelle Biografie von Aleko aus diesem Jahr finden. Auch wenn der Titel auf deutsch ist, ist das Buch auf bulgarisch. “Das Wunderkind”, was ein bisschen zu sehr dem Zeitgeist entspricht, zumindest nach meinem Geschmack, hat mich daran erinnert, dass ich Aleko in einem Vorwort von mir eine “Ausnahmepersönlichkeit” genannt habe. Ich bin mir allerdings nicht mehr sicher, ob es in dem von “Nach Chicago und zurück” oder in dem zu “Bai Ganju, der Rosenölhändler” war. Am Besten, Du holst Dir beide Bücher.

Am Abend war ich zurück auf dem Land, wo mich dieser phantastischen Ausblick auf das Balkangebirge erwartete. Ich bin mir sicher, dass auch Aleko Gefallen an ihm gefunden hätte. Verläuft das Leben in Sofia in Zeitlupe, scheint es hier in den Schluchten des Balkans regelrecht still zu stehen. Und das ist auch gut so.

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