Bericht aus Bulgarien (282) – “Gestern auf dem ‘Blasenmusikfestival'”

Ein Student meines Teams
(rückwärtige Ansicht)
Gestern war ich mit meinen Studenten auf dem “Blasenmusikfestival” im Nachbarstädtchen. Die Amerikanerin (auf Bulgarisch: “Amerikanka”) in meinem Team machte aus der Blasmusik, für die unsere Region im Nordwesten Bulgariens bekannt ist, “Blasenmusik”. Es gibt, wie du siehst, noch viel Arbeit für mich. Der nächste Fehler lag aber bei mir, und zwar dass ich – typisch deutsch – dachte, das “Blasenmusikfestival” ginge auch wirklich und genau um 17 Uhr los, nur weil auf dem Plakat 17 Uhr stand. Da hatte ich die Rechnung ohne den Bulgaren gemacht, der die Stunde, die er Deutschland voraus ist, ungenutzt verstreichen ließ. Oder, wenn man es positiv sehen will, der bei der Zeitangabe einfach die deutsche Zeit angibt. Nach bulgarischer Zeit begann das “Blasenmusikfestival” jedenfalls um 18 Uhr, das dann wiederum sogar nach deutschem Maßstab ausgesprochen pünktlich.

Der Solo-Eintänzer
(beim Warmtanzen der Tanzfläche)
Sogleich begann ich wegen der bulgarischen Zeit und meinem Verständnis, besser Unverständnis, für sie die Fehlersuche. Als halber Deutscher suchte ich den Fehler als erstes bei mir selbst, so wie ich die Schuld auch immer als erstes bei mir suche. Mein englischer Freund Jerry, der am liebsten ganzer Deutscher wäre, versuchte mich zu beruhigen, indem er auf meine Frage, was ich verkehrt gemacht habe, liebevoll auf Deutsch antwortete: “Du hast Recht!” – Ich muss, denke ich, nicht erklären, warum Jerry zu meinen Lieblingsschülern gehört, der mir gelegentlich sogar mit “Jawohl, mein Führer!” antwortet, was aber unter uns bleiben muss.
Filmische Dokumentation des bulgarischen Gewimmels
(durch einen Deutschen)
Joachim, der Deutsche in meinem Team, brachte sein Missfallen für die hiesige “Blasenmusik” mit der Bemerkung “Ich habe ausgehört” auf den Punkt. Das erinnerte nicht nur an das bekannte “Ich habe fertig” des Italieners Trappatoni, sondern Joachim konnte sich auch der Zustimmung meinen englischen Studenten Jerry sicher sein, der als professioneller Musiker an der Akustik (nicht an der Musik!) herumzukritteln hatte. – Nach gerade mal einer Stunde verließ ich mit meinem Team das “Blasenmusikfestival”, das zu diesem Zeitpunkt gerade dabei war überhaupt loszugehen, indem sich vom Baby bis zur Oma alle zum traditionellen “Ringelpietz mit Anfassen”, der auf Bulgarisch “Horo” heißt, auf der Tanzfläche einfanden, die zuvor vom Solo-Eintänzer vorbereitet worden war, der sie sozusagen warm getanzt hatte. – Als professioneller Teamleiter, dem der Wille seiner Studenten heilig ist, verließ auch ich den Ort des Geschehens, erlaubte mir aber immerhin die Frage aufzuwerfen, wann man ein solches Gewimmel zuletzt in deutschen, englischen oder gar amerikanischen Landen gesehen hat, also dass jung und alt sich an der Hand nehmend auf der Tanzfläche einfanden. – “Nicht zu Lebzeiten”, so die ehrliche Antwort des deutschen Teilnehmers, der sich zuvor mit “It’s not my music and now I know it more then ever!” in englisch versuchte, bevor er das erwähnte Gewimmel, von dem schon Goethe mit den Worten “Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehen!” schwärmte, nicht nur filmisch festhielt, sondern auch seinen eigenes Konzept an sich selbst ausprobierte, das da heißt: “Ich lasse lernen.”
PS: Heute Mittag versuche ich nun mein Team auf’s Neue lernen zu lassen, denn da sind wir beim Nachbarn zum Geburtstag eingeladen. In Bulgarien wird Geburtstag nicht am Abend, sondern mittags gefeiert. Auch in Sachen Geburtstag feiern ist beim Bulgaren nicht alles einfach nur anders, sondern ganz und gar umgedreht.
Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (281) – “Masken sprechen”

“Masken sprechen”*
 (auf dem Protest gegen die Corona-Maßnahmen am 11. Mai in Sofia)

Wann ich in Bulgarien zuletzt eine Maske aufgesetzt habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Es muss irgendwann im letzten Jahr gewesen sein. Als ich im Juni in Berlin war, ließ es sich nicht völlig vermeiden, weil ich auch mit Ämtern und Behörden zu tun hatte. Die Öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland, wo die Maskenpflicht bis heute gilt, habe ich, obwohl auch ich mir ein Neun-Euro-Ticket gekauft hatte, bewusst zu meiden gesucht. Lieber bin ich mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren, was nach einem Jahr auf dem Dorf eine ganz neue Erfahrung für mich war. Von und zum Flughafen habe ich keine Maske aufgesetzt. Ich hatte auch gar keine dabei, weil es in Bulgarien schon seit einiger Zeit niemanden mehr interessiert und es kaum noch Menschen gibt, die eine Maske tragen. In Deutschland sollen die Zügel, was das Masken tragen angeht, bald wieder angezogen werden. Dagegen regt sich jetzt Widerstand, was nicht neu ist. Neu ist, dass es nun auch in der Zeitung steht, und zwar in der Berliner. Nicht nur bei den britischen, sondern auch bei den deutschen Medien findet offensichtlich ein Umdenken in Sachen Berichterstattung statt. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall. Und Zeit genug war auch, um zu einem demokratischen Diskurs unterschiedlicher wissenschaftlicher Meinungen anstelle von willkürlichen Maßnahmen und diktatorischen Anweisen zurückzukehren, auch damit dieser nicht völlig einrostet. Für viele kommt dieses Umdenken allerdings zu spät. Auch wenn die Berliner neulich diesen Text von mir veröffentlicht hat, lese ich sie selbst nur, wenn ich explizit auf einen Artikel hingewiesen wurde. Sonst lese ich sie nicht. Auf “Wissenschaftler: ‘Keine evidenzfreie Maskenpflicht'” mit dem Untertitel “Das Tragen einer Maske soll im kommenden Herbst wieder großflächig vorgeschrieben werden können. Eine Gruppe von Wissenschaftlern kritisiert das Vorhaben scharf.” hat mich gerade eine gute alte Freundin und Kollegin, sie ist Krankenschwester in Berlin, hingewiesen. Vielen Dank dafür!

* u.a.: “Ich lebe in Angst”, “Ich glaube dem Fernsehen”, “Ich will keine Freiheit, ich will Sicherheit”, “Ich möchte medizinische Tyrannei”, “Ich liebe Bill Gates”, “Ich mache, was man mir sagt”, “Ich möchte die Impfpflicht”, “Für alles ist Trump verantwortlich” (heute Putin, Anmerkung TaxiBerlin) und “Neue Normalität”

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (280) – “Von Luxusproblemen lernen”

Leider nicht auf Deutsch – aber vielleicht demnächst

In Grossbritannien findet gerade ein Umdenken in den Medien über die Berichterstattung statt, das jetzt auch beim Guardian angekommen ist. Ein Umdenken übrigens, das in Bulgarien nicht nötig ist, weil hier die Berichterstattung immer eher auf den Füßen stand, so wie das allermeiste in Bulgarien von hause aus umgedreht wie in der Heimat ist. Aus dem Guardian erfahre ich nun, dass Milliardäre in den USA aktuell ihre ganz eigenen Probleme haben, über die bisher nicht berichtet worden war. Die Superreichen nicht nur in Amerika rechnen mit dem Schlimmsten, sogar mit dem Niedergang des Systems, das ihre Macht bis heute sichert. Deswegen beschäftigt sie, nachdem sie sich bereits mit dem Bau von Bunkern darauf vorbereitet haben, ganz aktuell folgende Frage: “Wie behalte ich nach dem Ereignis die Autorität über meine Sicherheitskräfte?” – Wie wir morgen unser Gas bezahlen, diese Frage stellen sie sich nicht, aber gut, ich stelle mir auch nicht die Frage, wie ich morgen die Autorität über meine Sicherheitskräfte behalte, einfach weil ich sie nicht habe. Auch deswegen ist das Problem der Superreichen für mich eher ein Luxusproblem. Bei den allermeisten dürfte es nicht anders aussehen. Das hat den Vorteil, dass Zeit und Raum bleibt, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Und da frage ich mich gerade, ob sich ein “Führer durch den Kapitalismus” rechnet, den ich in Anlehnung an obige “Guides” gerne schreiben möchte, und in dem dann auch Bilder von den erwähnten Bunkern neben verwaisten Börsen enthalten sein könnten. Das ist zwar kein Luxusproblem, aber doch irgendwie kapitalistisch gedacht. Und überhaupt, vielleicht sollte auch ich mir wie die Superreichen zumindest ein paar Konserven für den Ernstfall “preppern”, was der Geldbeutel halt hergibt. Vielleicht gehe ich besser so an die Sache ran, dass ich mich frage, was ich von den Luxusproblemen der Superreichen noch lernen kann.

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Bericht aus Bulgarien (279) – “Was ist passiert?”

Bulgarisches Protokoll-Heft – auch für Romane geeignet

“Was ist passiert?” fragt sich Verena Töpper vom ehemaligen Nachrichtenmagazin, dass eine Hochbegabte, die mit 14 Abitur gemacht, danach Medizin studiert hat und dann in die Forschung ging, jetzt Romane schreibt, die kaum einer liest. Also ich würde sagen, die jetzt knapp 30 Jahre alte Frau, sie heißt Minu Tizabi, hat alles richtig gemacht. Sie hat gesehen, wie es in der medizinischen Forschung läuft, spätestens seit Corona sollte das Wissen darüber auch in Hamburg angekommen sein – Zeit genug war ja nun, und sich dann für die wichtigen Dinge im Leben und gegen’s Geld verdienen entschieden. Dass es in der Vergangenheit jede Menge Autoren gab, die zu Lebzeiten kaum oder gar nicht gelesen wurden, weil sie ihrer Zeit voraus waren, weiß die Spiegel-Autorin offensichtlich auch nicht, die es nicht einmal schafft einen ordentlichen Artikel zu schreiben, geschweige denn Romane.

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Bericht aus Bulgarien (278) – “Wenn selbst das arme Bulgarien Deutschland abhängt”

PEACE LOVE EMPATHY

Jetzt ist man selbst in Hamburg beim ehemaligen Nachrichtenmagazin dahinter gekommen, was ich seit Jahren erzähle, und von dem ich den Titel übernommen habe. Arm finde ich Bulgarien gar nicht – im Gegenteil. Mein Leben in den Schluchten des Balkans ist um einiges reicher als mein Leben in Berlin war, und das sogar mit weit weniger Geld. Es ist kein Quatsch, wenn ich sage, dass ich mich in Bulgarien nicht nur reich, sondern sogar privilegiert fühle. Privilegiert fühle ich mich deswegen, weil sich mein Leben hier auf wundersame Weise das wirklich wichtige reduziert hat. Praktisch so wie es auf dem T-Shirt des Zigeuner-Mädchens steht, auch wenn es selbst nicht von den im Spiegel-Artikel erwähnten Bildungsprogrammen profitiert, sondern lieber betteln geht. Aber das wichtigste im Leben gibt es bekanntlich sowieso immer umsonst. So sehe ich beispielsweise auch mein Geschenk, hier zu sein, für das ich immer noch ausgesprochen dankbar bin.

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Bericht aus Bulgarien (277) – “Ohne Etiketten”

Birnen von der Nachbarin

Am Freitag waren wir bei Baba Bore, wo wir vier Wochen nicht waren. Für jede Woche, die uns Baba Bore, was die liebevolle Abkürzung für Borislava ist, nicht gesehen hat, gab es eine Tüte mit Obst und Gemüse aus ihrem Garten. Die Birnen und Pfirsiche auf dem Tisch waren in einer davon. In den anderen befanden sich Zwiebeln, Paprika, Feigen, Tomaten, Knoblauch, Auberginen und Zucchini. Jetzt sind wir erstmal versorgt. Früher haben wir Dinge auch eingekocht, aber das schaffen wir heute nicht mehr. Dafür sind wir zu sehr mit dem Lesen und Schreiben beschäftigt. Baba Bore weckt wie jedes Jahr ein, sie ernährt damit ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Damals hat sie uns Tips gegeben wegen dem Einwecken, aber wir haben auch im Internet nachgeschaut. Und da war es so, dass der Deutsche unbedingt Etiketten fürs Einwecken braucht. Das war komplett irre, auch weil sich dieser Hinweis nirgendwo sonst fand, und beim Deutschen man das Gefühl bekam, dass man ohne Etiketten nicht einwecken kann. Baba Bore sind Etiketten unbekannt. Es geht also auch so. Das können wir aus eigener Erfahrung bestätigen.

Alles von Baba Bore (Borislava)

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Bericht aus Bulgarien (276)

Ein Plakat auf der Demonstration am 19. März in Sofia
In Prag sollen 70.000 Menschen auf der Straße gewesen sein gestern. Ich lese nur noch die Überschriften und die Kommentare. Wenn sie 70.000 schreiben, gehe ich davon aus, dass es mindestens 100.000 gewesen waren, wahrscheinlich eher 200.000. So viele Menschen sind in Sofia bisher nicht zusammengekommen. Wie auch, wenn jeder dritte Bulgare im Ausland lebt. Obwohl, nicht wenige sind in den letzten beiden Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt, manche sogar auf ihre Dörfer. Einige von ihnen habe ich auf den zahlreichen Protesten in der bulgarischen Hauptstadt kennengelernt, der ein oder andere der Zurückgekehrten hat sogar zu den Protestierenden gesprochen. Eine Einladung dazu brauchte keiner von ihnen. Dass das alles nützliche Idioten wären, die da auf die Straße gehen, davon habe ich hier noch nie gehört. Aber da ist man selbst beim ehemaligen Nachrichtenmagazin aus Hamburg gerade dabei zurückzurudern, zumindest gestern. Morgen in Leipzig sieht das natürlich schon wieder anders aus. Wie gesagt, ich lese nur noch die Überschriften und die Kommentare, denken kann ich noch selber. Ich brauche die Zeit auch für meine Bücher, die ich mir selbst aus Berlin nach Bulgarien geschickt habe. Gerade lese ich “Im Zeitalter der Sucht” von Anne Wilson Schaef, ihr indianischer Name ist Weán Wamblischka Wanka. Die bekannte US-amerikanische Psychotherapeutin ging schon vor über 30 Jahren davon aus, dass wir in einem Suchtsystem leben, was aber nicht heißt, dass alle an der Nadel hängen, obwohl in diesem Punkt das Buch unter Umständen schon überholt ist. Die Einleitung beginnt jedenfalls mit diesem Satz: “Unsere Gesellschaft zerfällt mit beängstigender Geschwindigkeit.” Im Kapitel “Angst” schreibt die Autorin, sie ist Mitbegründerin des “Woman’s Institute of Alternative Psychotherapy”, dass wir uns unsere Krisen selber schaffen, und zwar “als Garantie dafür, dass doch noch eine geringe Überlebenschance besteht.” So sehe ich auch den Krieg in der Ukraine zwischen Russland und den USA, für den die USA in hohem Maße mitverantwortlich ist und den ebenfalls die USA als größter Kriegsprofiteur auf keinen Fall beenden will. Deutschland, also auch du und ich, wir sind dafür nur die nützlichen Idioten.
Foto&Text TaxiBerlin