Immer wieder komme ich in die Situation, mich, meine Situation und damit auch das Modell der sozialen Marktwirtschaft wie wir sie kannten zu erklären. Dazu muss man wissen, dass dies niemandem in Bulgarien je erklärt wurde, und dass das wenige vorhandene Wissen – auch über Demokratie an sich – aus den Neunzigern stammt oder schlichtweg falsch ist. Beispielsweise wieviel man in einem ganz normalen Beruf wie Taxifahrer, Verkäuferin oder als Krankenschwester verdient. Dass man in Bulgarien oft immer noch davon ausgeht, man könne vier-, fünf- oder gar sechstausend Euro im Monat damit verdienen, ist weniger der Umstellung von D-Mark auf Euro geschuldet, sondern schlichtweg Wunschdenken. Dieses führt dann regelmäßig zu Überlegungen darüber, wie man seinem Glück auf die Sprünge helfen kann. Und da kommt dann oft auch die Arbeitslosenversicherung ins Spiel, von der vor allem derjenige nichts hat, der nicht arbeitslos wird. Das empfindet der Bulgare nicht nur als ungerecht, sondern an erster Stelle als dumm. Warum ausgerechnet der, der weil er eben nie arbeitslos wird, am wenigsten oder gar nicht davon profitiert, das versteht der Bulgare nicht. Das Argument, dass so Versicherungen funktionieren, lässt er nicht gelten. Mein persönliches Schicksal, meine Arbeit (und damit auch mein bisheriges Leben) verloren zu haben, wird hier gerne als besonders clevere Inszenierung (auch meinerseits) gesehen. Obwohl es nicht stimmt, fühle ich mich doch immer gleich besser, so gesehen zu werden. Was bin ich doch für ein cleveres Kerlchen. Und das stimmt dann wiederum, denn mein Leben ist hier noch einmal reicher geworden, als es bisher schon war. Jetzt nicht im materiellen Sinne – das nicht. Auch nicht nur an verrückten Meinungen und Lebensansichten wie die über den Sinn und Unsinn einer Arbeitslosenversicherung. Sondern vor allem reich an neuen Freunden, sowohl in Bulgarien, wo mir ein bulgarischer Freund einfach mal seine Ferienwohnung am Meer zur Verfügung gestellt hat, als auch in Deutschland, wo Freunde Pakete mit Büchern an mich auf den Weg bringen und sich um meine Post kümmern. Dafür bin ich sehr dankbar.
Foto&Text TaxiBerlin
Selbst in dem Buchladen in der bulgarischen Kleinstadt Goce Deltshev nahe der Grenze zu Griechenland ist das neue Buch von Hans-Joachim Maaz “Angstgesellschaft” erhältlich. Etwa ein Monat ist es her, dass es auf bulgarisch erschienen ist, der Preis liegt bei neun Euro. Im Sommer hatte ich mit meinem besten bulgarischen Freund und Übersetzer Martin gesprochen, den ich im letzten Sommer an einem Buchstand auf der Straße von Sofia kennengelernt habe, und mit dem ich seither befreundet bin. Ich musste weder Martin noch seinen Verleger, den Inhaber des in Sofia ansässigen Ost-West-Verlages, von dem Buch vom “Therapeuten meines Vertrauens” überzeugen. Dass das Buch Wert ist, übersetzt zu werden, darauf waren sie schon selbst gekommen. Was die Geschichte beweist, ist, dass die Wege in Bulgarien manchmal ganz kurz sein können. Das liegt auch daran, dass es nicht mehr viele Bulgaren in Bulgarien gibt – jeder dritte Bulgare lebt im Ausland. Das ist übrigens das Thema meines nächsten Artikels, der in der nächsten Woche veröffentlich wird. Zurück zu dem neuen Buch von Hans-Joachim Maaz, das in dem kleinen Buchladen nicht nur erhältlich ist, sondern ausgerechnet auch noch neben einem von Klaus Schwab steht. Ob dies in der Heimat auch so ist, also dass das Buch von Maaz in einem kleinen Buchladen in der Provinz im Regal steht, das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Möglicherweise gibt es dort einfach gar keinen Buchladen mehr, in denen die “Angstgesellschaft” im Regal stehen könnte.
Foto&Text TaxiBerlin
Gerade erreicht mich folgende aktuelle und schier unglaubliche Geschichte aus Deutschland: Ein Mensch in Not fragt bei einem vermeintlichen Freund an, ob dieser ihn für ein paar Tage bei sich aufnehmen könne, er würde auch dafür bezahlen. Platz hat dieser genug, aber nur ein Bad, was auch als Grund angegeben wird, dass aus der Aufnahme nichts wird. Der Hauptgrund ist aber, dass der vermeintliche Freund gerade keine weiteren Einnahmen gebrauchen könne, und zwar wegen der Steuer. Mit den zusätzlichen Einnahmen ist das Angebot gemeint, für die Aufnahme zu bezahlen. Ein offizieller Mietvertrag wäre nicht nötig, aber beim Bezahlen muss offensichtlich deutsche Ordnung sein bei dem vermeintlichen Freund. Es wird einem also nicht immer gegeben, wenn man bittet, wie ich neulich noch behauptet hatte. Eine gute Schule, das Bitten zu lernen, ist es allemal. – Auch ich kenne diesen vermeintlichen Freund. Im Sommer habe ich in seinem Auftrag einen Text über ihn als Künstler geschrieben, der ihm aber nicht gefallen und den er dementsprechend auch nicht bezahlt hat. So etwas kommt vor. Immerhin hat er angeboten, dass wir in einem halben Jahr, das wäre Anfang nächsten Jahres, über den Text sprechen. Ich habe dem zugestimmt, auch wenn ich nicht recht verstanden habe, wozu das halbe Jahr Wartezeit gut sein soll. Mittlerweile glaube ich, dass sich der vermeintliche Freund sozusagen bulgarisch aus der Affaire ziehen will. Früher konnte man sicher sein, dass man einen Bulgaren, der einen darum bittet, nur einen Moment zu warten, nie wieder sehen wird. Aber das war früher. Ob heute ein Bulgare einen Freund wegen der Steuer nicht bei sich aufnimmt, darüber ist mir (noch) nichts zu Ohren gekommen. Meine Erfahrungen mit Freunden hier in Bulgarien sind jedenfalls andere. Aber darüber hatte ich bereits geschrieben.
Foto&Text TaxiBerlin
Während ich noch im Tal der Esel im Süden Bulgariens nahe der Grenze zu Griechenland weile, ist in der Heimat gerade ein neuer Artikel von mir erschienen und ein weiterer ist für Sonntag geplant. Der von heute, den das Online-Magazin Multipolar veröffentlicht hat, trägt den Titel “Das Suchtsystem”. Im Mittelpunkt des Artikels steht die Frage, ob sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft süchtig sein können, auch wenn der Einzelne gar keine Drogen nimmt? Die US-amerikanische Frauenrechtlerin und Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef war der Überzeugung: Ja! Wie es funktioniert, beschrieb sie bereits Ende der Achtziger in ihrem New-York-Times-Bestseller „When Society Becomes An Addict“ (auf Deutsch: „Wenn die Gesellschaft süchtig wird“), das ich in dem Beitrag vorstelle. Der für Sonntag vorgesehene Artikel wird wieder den Fokus Bulgarien haben, und zwar die Massenauswanderung aus dem kleinen Land am Rand, denn jeder dritte Bulgare lebt im Ausland, unter den zwischen 20- und 45-Jährigen sogar jeder zweite. Bis dahin werde ich so wie auch meine bulgarischen Tierarztkollegen, sie haben sich fürs Hierbleiben entschieden, im Tal der Esel bleiben, denn es gilt: When you are in the valley, you have to do like the vets do.
Die bulgarischen Schüler haben heute schulfrei, denn es ist der “Tag der bulgarischen Vordenker der Aufklärung”. Aktuell denken die bulgarischen Vordenker gerade die Gendersprache weiter, möglicherweise sogar zu Ende. In Deutschland sieht es so aus, dass es bald nur noch die weibliche Form geben wird, und zwar wenn die Pause vor dem Anhängsel “Innen” wegfällt. Dass sie wegfallen wird, halte ich sozusagen für alternativlos, denn sie ist unnatürlich, weswegen sie die, die sich mich Sprache auskennen, auch als Vergewaltigung bezeichnen. Eine Vergewaltigung, die nicht nur erlaubt, sondern auch gewollt ist. In Bulgarien geht es auch in der der Frage der Gendersprache nicht einfach nur anders, sondern genau entgegengesetzt zu. Hier wird seit einiger Zeit einfach die weibliche Form abgeschafft, so dass es bald nur noch die männliche geben wird. Ich will ein Beispiel machen, dann wird es klarer. Gab es bisher sowohl einen Kollegen (edna kolega) als auch eine Kollegin (edna koleshka), so wird nun nur noch die männliche Form gelehrt, also ein Kollege (edna kolega). – Um dies zu würdigen, ist heute schulfrei.
Foto&Text TaxiBerlin