Bericht aus Bulgarien (287) – “Interviewanfrage”

Unterwegs zur Sendung

Noch im Tal der Esel erreichte mich eine Interviewanfrage zu meinem Artikel über die Uber Files, der im September auf Multipolar erschienen ist. Gerne bin ich der Anfrage nachgekommen, auch weil sie von der Berliner Taxikollegin Sonja kam, die seit zwei Jahren meine Sendung “Hier spricht TaxiBerlin” weiterführt, die jetzt “Hier spricht TiffanyTaxi” heißt. Das Interview wird heute ab 19 Uhr deutscher Zeit auf Pi-Radio ausgestrahlt, in Berlin unter 88.4 MHz, weltweit als LiveStream im Internet. – Der Artikel ist mir alles andere als leicht gefallen ist, immerhin habe ich Uber meine Arbeitslosigkeit zu verdanken. Am Ende habe ich fast ein halbes Jahr an dem Text gearbeitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, was mir auch Freunde und Kollegen bestätigt haben, die mit Uber bisher nichts am Hut hatten. Das könnte sich sehr bald ändern, und zwar wenn auch sie ihre Arbeit verloren haben, auch sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können und auch sie demnächst, genauso wie Uber-Fahrer heute schon, in ihrem kleinen Bangladesh mitten unter uns leben. Das mag sich für manch einen noch unwahrscheinlich anhören, aber das waren die erste Uber-Fahrzeuge auf den Berliner Straßen für mich auch. Für uns Taxifahrer war es damals unvorstellbar, dass Uber damit durchkommen wird. Immerhin leben wir doch in einem Rechtsstaat, alles würde sich bald aufklären, sicherlich war alles nur ein Versehen. – Das war es nicht, im Gegenteil. Es war ein komplettes Versagen, das bis heute anhält und immer mehr Bereiche unseres Gemeinwesens erfasst. Viele haben die Uberisierung ihres Lebens bereits am eigenen Leibe erfahren, weitere wird es demnächst erfassen. Wer wissen will, was auf ihn zukommt, sollte die heutige Sendung auf keinen Fall verpassen.

Foto MiraSofia
Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (286) – “Letzter Spaziergang”

mit Herkules

Gestern habe ich meinen vorerst letzten Spaziergang mit Herkules aus dem Tal der Esel im Süden Bulgariens nahe der Grenze zu Griechenland gemacht. Jetzt, wo ich darüber schreibe, und bevor ich gleich das Tal verlassen werde, fällt mir ein, dass Spaziergänge in der Heimat neulich noch verboten waren. Sind sie es vielleicht immer noch? Oder gar schon wieder? Ich weiß es nicht. Deutschland ist nach eineinhalb Jahren in den Schluchten des Balkans weit weg für mich. In Bulgarien sind Spaziergänge nicht verboten und waren es auch nie. Ich habe aufgegeben, Bulgaren vom deutschen Spazierverbot zu erzählen – sie glauben es mir nicht. (Ich hoffe, ich erzähle jetzt nichts verkehrtes, aber zum Glück habe ich einen Faktenchecker in der Heimat, der alles von mir liest, und der sich sogleich bei mir meldet, wenn ich etwas unwahres behaupte.) Zurück zu Herkules, einem für einen Spaziergang bestens geeigneten Langohr aus dem Tal der Esel. Das war nicht immer so. Als er vor einigen Jahren ins Tal kam, war er ein richtiger Raufbold. Dass er sich damals mit allen angelegt hat, lag daran, dass er von seinem früheren Besitzer schlecht behandelt wurde. Das hat sich nicht nur gegeben, sondern ins Gegenteil verkehrt. Eine ähnliche Entwicklung habe ich in den letzten eineinhalb Jahren auch bei mir festgestellt. Hatte ich am Anfang immer das Gefühl, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte, ein jeder wolle mir nichts Gutes, so hat sich das seit ich hier bin komplett gewandelt. Und nicht nur das. Der Gelassenheitsspruch, den ich von den Berliner Meetings der Anonymen Alkoholiker mitgebracht habe, er wird mir hier in Bulgarien vorgelebt, nicht nur von den allermeisten Menschen, sondern auch von den Esel. Mit ihrer Duldsamkeit geben sie mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Foto MiraSofia
Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (285) – “Mein erster Podcast”

Mein Bezugspunkt

Heute ist der erste Text von mir als Podcast erschienen. Bevor er vor wenigen Tagen auf Multipolar erschienen ist, hatte ich ihn verschiedenen deutschsprachigen Psychologie-, Psychotherapie- und Suchtmagazinen bzw. Zeitungen angeboten – keiner wollte den Text veröffentlichen, aus verschiedenen Gründen. – Mir selbst ist der letzte Satz der wichtigste. Es ist ein Zitat aus dem New-York-Times-Bestseller „When Society Becomes An Addict“ („Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit“) von Anne Wilson Schaef, um den es in meinem Text geht: „Wir passen uns in dieses System nicht mehr ein, aber wir bekämpfen es auch nicht; es hat einfach keine Bedeutung mehr, es ist nicht mehr unser Bezugspunkt. Es ist nebensächlich geworden, weit entfernt, belanglos. Wir sind vollkommen von ihm abgetrennt. Wir haben einen Systemwechsel vollzogen und es hinter uns gelassen.“

Foto MiraSofia
Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (284) – “Sein, wie man ist vs. ordnungsgemäßem Tragen & Verhalten”

Sie lassen mich sein, wie ich bin
(unter Garantie und auch mit schwarzen Socken)

Nicht nur Bulgarien ließ mich immer so sein, wie ich bin, ich erwähnte das hier, sondern auch Tiere. Das ist mir einmal mehr im “Tal der Esel” im Süden Bulgariens nahe der Grenze zu Griechenland klar geworden, wo es nicht nur Esel, sondern auch Hunde, Katzen und Hühner gibt. Dass es in Deutschland anders ist, daran hat mich mein gestriger Besuch in einem Second-Hand Geschäft für Klamotten erinnert. Bulgarien hat zwar nicht die von mir geliebten deutschen Flohmärkte, dafür aber jede Menge Second-Hand Geschäfte mit Kleidung aus Deutschland. Viele der Klamotten, die es hier “für’n Appel und ‘n Ei” gibt, wurden bei meiner Abreise aus Deutschland auf Berliner Flohmärkten noch für viel Geld als “Retro” oder “Vintage” angeboten. Oft ist die Kleidung ungetragen, wie die schwarzen Strümpfe weiter unten, auf die es sogar Garantie gibt, aber nur “bei ordnungsgemäßem Tragen” – so steht es auf dem Etikett. Dazu muss man wissen, dass es in Bulgarien traditionell keine Garantie gibt. Sind es in Deutschland zwei Jahre, sind es in Bulgarien zwei Meter, und zwar vom Geschäft, aber nur, wenn man wirklich ganz großes Glück hat. Der Bulgare sagt bis heute gerne “Garanzija? – Franzija!”, was heißt, wer Garantie will, muss nach Frankreich gehen. Dass es nur “bei ordnungsgemäßem Tragen” Garantie gibt, das gibt es, so denke ich, nur in Deutschland. Früher musste dies dem Kunden in der Heimat mittels Etikett “Schwarz auf Gold” mitgeteilt werden. Heute hat der Deutsche nicht nur das “ordnungsgemäße Tragen” von Socken, sondern das “ordnungsgemäße Verhalten” an sich so verinnerlicht, dass es ihm niemand mehr sagen muss. Und wenn doch, dann wird immer gleich die Nazikeule herausgeholt. Unter dem tut es der Deutsche nicht. Wenn ich das hier Bulgaren erzählt habe, dann glaubten sie mir das nie, weswegen ich es aufgegeben habe. Jetzt verbringe ich meine Zeit lieber mit Tieren. Denen muss ich nichts erklären. Und ich kann unter Garantie so sein, wie ich bin.

Ordnung muss sein – auch beim Sockentragen
Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (283) – “Von der Arbeitslosenversicherung zur Dankbarkeit”

Ein cleveres Kerlchen wie ich

Immer wieder komme ich in die Situation, mich, meine Situation und damit auch das Modell der sozialen Marktwirtschaft wie wir sie kannten zu erklären. Dazu muss man wissen, dass dies niemandem in Bulgarien je erklärt wurde, und dass das wenige vorhandene Wissen – auch über Demokratie an sich – aus den Neunzigern stammt oder schlichtweg falsch ist. Beispielsweise wieviel man in einem ganz normalen Beruf wie Taxifahrer, Verkäuferin oder als Krankenschwester verdient. Dass man in Bulgarien oft immer noch davon ausgeht, man könne vier-, fünf- oder gar sechstausend Euro im Monat damit verdienen, ist weniger der Umstellung von D-Mark auf Euro geschuldet, sondern schlichtweg Wunschdenken. Dieses führt dann regelmäßig zu Überlegungen darüber, wie man seinem Glück auf die Sprünge helfen kann. Und da kommt dann oft auch die Arbeitslosenversicherung ins Spiel, von der vor allem derjenige nichts hat, der nicht arbeitslos wird. Das empfindet der Bulgare nicht nur als ungerecht, sondern an erster Stelle als dumm. Warum ausgerechnet der, der weil er eben nie arbeitslos wird, am wenigsten oder gar nicht davon profitiert, das versteht der Bulgare nicht. Das Argument, dass so Versicherungen funktionieren, lässt er nicht gelten. Mein persönliches Schicksal, meine Arbeit (und damit auch mein bisheriges Leben) verloren zu haben, wird hier gerne als besonders clevere Inszenierung (auch meinerseits) gesehen. Obwohl es nicht stimmt, fühle ich mich doch immer gleich besser, so gesehen zu werden. Was bin ich doch für ein cleveres Kerlchen. Und das stimmt dann wiederum, denn mein Leben ist hier noch einmal reicher geworden, als es bisher schon war. Jetzt nicht im materiellen Sinne – das nicht. Auch nicht nur an verrückten Meinungen und Lebensansichten wie die über den Sinn und Unsinn einer Arbeitslosenversicherung. Sondern vor allem reich an neuen Freunden, sowohl in Bulgarien, wo mir ein bulgarischer Freund einfach mal seine Ferienwohnung am Meer zur Verfügung gestellt hat, als auch in Deutschland, wo Freunde Pakete mit Büchern an mich auf den Weg bringen und sich um meine Post kümmern. Dafür bin ich sehr dankbar.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (282) – “Der Traum vom Corona-freien Leben”

Neuerdings macht das ehemalige Nachrichtenmagazin aus Hamburg Werbung für den Traum vom Corona-freien Leben in Bulgarien. Wow! Was wohl Onkel Bill als Spiegel-Geldgeber und Corona-Profiteur dazu sagt? Mit 262.467 Aufrufen und 1.395 Kommentaren in nur fünf Tagen ist die Doku auf reges Interesse gestoßen. Aber nicht nur das. Der für Arte produzierte Aufklärungsfilm hat manchen auch auf eine Idee gebracht, zum Beispiel Seray Yildiz auf diese: “Danke für diese Reportage, ich finde es sehr interessant und könnte mir auch vorstellen dahin zu ziehen.”
Video SPIEGELfürARTE
Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (281) – “Maaz neben Schwab”

Im Buchladen in Bulgarien

Selbst in dem Buchladen in der bulgarischen Kleinstadt Goce Deltshev nahe der Grenze zu Griechenland ist das neue Buch von Hans-Joachim Maaz “Angstgesellschaft” erhältlich. Etwa ein Monat ist es her, dass es auf bulgarisch erschienen ist, der Preis liegt bei neun Euro. Im Sommer hatte ich mit meinem besten bulgarischen Freund und Übersetzer Martin gesprochen, den ich im letzten Sommer an einem Buchstand auf der Straße von Sofia kennengelernt habe, und mit dem ich seither befreundet bin. Ich musste weder Martin noch seinen Verleger, den Inhaber des in Sofia ansässigen Ost-West-Verlages, von dem Buch vom “Therapeuten meines Vertrauens” überzeugen. Dass das Buch Wert ist, übersetzt zu werden, darauf waren sie schon selbst gekommen. Was die Geschichte beweist, ist, dass die Wege in Bulgarien manchmal ganz kurz sein können. Das liegt auch daran, dass es nicht mehr viele Bulgaren in Bulgarien gibt – jeder dritte Bulgare lebt im Ausland. Das ist übrigens das Thema meines nächsten Artikels, der in der nächsten Woche veröffentlich wird. Zurück zu dem neuen Buch von Hans-Joachim Maaz, das in dem kleinen Buchladen nicht nur erhältlich ist, sondern ausgerechnet auch noch neben einem von Klaus Schwab steht. Ob dies in der Heimat auch so ist, also dass das Buch von Maaz in einem kleinen Buchladen in der Provinz im Regal steht, das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Möglicherweise gibt es dort einfach gar keinen Buchladen mehr, in denen die “Angstgesellschaft” im Regal stehen könnte.

Foto&Text TaxiBerlin