Zurück in Bulgarien (009) – “The Eyes of God”

Gestern mittag, im Sofioter Vorort Dragalevtsi* wurde gerade Alexei Petrov erschossen, waren wir in der Höhle “The Eyes of God”, die auf bulgarisch “Prohodna” heißt. Mein englischer Freund Jerry, der schon mehrfach dort war, hat den Ausflug organisiert. Ich war zum ersten Mal in der Höhle, von der ich schon einiges gehört hatte, und war sehr angetan. Und das nicht nur von “Den Augen Gottes”, sondern auch davon, dass viele Leute, vorzugsweise Bulgaren, in der Höhle oder auf dem Weg zu ihr unterwegs waren. Vor 30 Jahren war das noch anders, da war man an solchen Orten und auch im Gebirge meist alleine. Die Bulgaren sind damals nicht mehr gewandert, sondern nur noch ausgewandert. Das ist heute zum Glück anders. Es waren auch viele Kinder unterwegs, teilweise ganze Schulklassen. Einige der Kinder sind sogar geklettert, wozu man einen Helm brauchte. Ob wir einen solchen dabei hätten, wurden wir auf dem Weg zur Höhle von einem kleinen Mädchen von vielleicht fünf Jahren gefragt, was wir verneinten. Dann könnten wir nicht klettern, wurden wir daraufhin von ihr aufgeklärt. Und so war es dann auch. Aber auch ohne zu klettern hat sich der Ausflug zur Höhle “Prohodna” gelohnt.
* Der Vorort Dragalevtsi befindet sich direkt am Fuße des Vitosha-Gebirges. Alexei Petrov spazierte zusammen mit einer Frau, auf die ebenfalls geschossen wurde, auf einem Weg, der zur Hütte “Aleko” führt. Die Hütte “Aleko” ist nach dem klassischen bulgarischen Autor Aleko Konstantinow benannt, von dem ich beim Wieser-Verlag in Klagenfurt zwei Bücher herausgebe, und der ebenfalls erschossen wurde.

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Zurück in Bulgarien (008) – “Ist das schon Krieg?”

Irgendwo und nirgendwo in Bulgarien

Gestern gab es ein Attentat in einem Vorort von Sofia auf einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter. Es war nicht der erste Versuch, ihn zu töten, sondern der dritte, und der war erfolgreich. Obwohl ich das Opfer nicht kenne (sein Name, den ich gestern zum ersten Mal gehört habe, ist Alexei Petrov), frage ich mich, ob der Krieg vielleicht schon begonnen hat. Bisher fühlte ich mich in Bulgarien “nur” wie nach einem verlorenen Krieg. Aber vielleicht hat ein neuer bereits begonnen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Kann doch sein, oder? Immerhin gibt es aktuell Panzersperren wie obige im Land. Wobei diese noch ganz zivilisiert mit Ampel sind. Möglicherweise ist die Ampel der Hinweis darauf, dass der Krieg doch noch nicht begonnen hat, zumindest nicht offiziell. Spätestens, wenn die Ampel ignoriert wird oder gar zerschossen wurde, dürfte der Krieg begonnen habe. – So denke ich heute.

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Nachrichten aus einem Land im Niedergang – Heute: “Unbekannter Starttermin”


Immerhin, nicht der Film “Sound of Freedom” ist unbekannt in Deutschland, sondern nur sein Starttermin. In den USA ist er bereits am vierten Juli angelaufen. Seither läuft er mit großem Erfolg in den dortigen Kinos, wo auch ich ihn gesehen habe. Alleine des Themas wegen, es geht um die Entführung von Kindern, Menschenhandel und Sextourismus, halte ich “Sound of Freedom” für ein absolutes MUSS. Wenn er irgendwann einmal in die deutschen Kinos kommen sollte, unbedingt ansehen. Meine Empfehlung: Nichts über den Film lesen, sondern sich sein eigenes Bild machen, an die Quelle gehen, ins Kino, zu “Sound of Freedom”.

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Was ich heute wieder denken soll: “Ost = schlecht”

Nachdem ich zehn Tage nicht mehr bei Spiegel-Online vorbeigeschaut habe, wusste ich gar nicht mehr, was ich denken soll. Beispielsweise dass selbstfahrende Autos die Straßen von San Francisco erobern, weswegen Konzerne wie General Motors und Alphabet jetzt ein Milliardengeschäft wittern. Das war gestern die Top Meldung. Dass selbstfahrende Autos in der Kritik stehen, weil sie die Straßen blockieren, so dass selbst die Polizei nicht durchkommt, beispielsweise zu einer Schießerei im Stadtteil Mission, das soll ich besser nicht wissen. Die Information über Milliardengewinne ist wichtiger, auch wenn sie mich persönlich nicht betrifft. Auch dass es bereits Widerstand gegen selbstfahrende Autos in San Francisco gibt. Menschen, die etwas gegen sie haben, stülpen aktuell einfach Eimer über die Kameras auf dem Dach und ziehen das Fahrzeug damit aus dem Verkehr. Davon, dass Obdachlose bereits die Straßen von San Francisco erobert haben, auch davon erfahre ich besser nichts. Denn das könnte die Gewinne am Geschäft mit den Touristen schmälern, die das San Francisco von heute als verlorene und dystopische Stadt besichtigen. – Immerhin erfahre ich, dass nur noch 27 Prozent der Deutschen den Staat für fähig hält, seine Aufgaben zu erfüllen. Das Vertrauen in unseren Staat ist auf dem Tiefstand. Mit anderen Worten: Deutschland hat fertig. Ihr könnt euren Laden dicht macht. Der letzte macht das Licht aus. So wie San Francisco eine dystopische Stadt ist, ist Deutschland ein Land im Untergang. Nicht so beim Spiegel. Da geht man nach einer solchen Meldung zur Tagesordnung über oder wie man in Amerika sagt: business as usual. Jetzt wird klarer, dass damals auch niemand den Untergang der DDR auf dem Schirm hatte. Apropos: Die 27 Prozent sind der Durchschnitt. Sieht man sich die Studie genauer an, wird klar, dass es eine Differenz von fast zehn Prozent zwischen Ost und West gibt. – Immerhin, das darf ich wissen, muss allerdings rechnen können, denn die Zahlen werden diesmal andersrum präsentiert. Dort, also im Osten, waren 77 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass der Staat hinsichtlich seiner Aufgaben und der bestehenden Probleme überfordert sei – im Westen waren es nur 68 Prozent. Dann geht es plötzlich nicht mehr darum, ob der Staat seinen Aufgaben gewachsen ist, sondern dass das Ansehen des Staates demnach in Ostdeutschland “besonders schlecht” ist. – Fazit: “Ost = schlecht”. – Danke, lieber Spiegel, für diese Aufklärung!

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Zurück in Bulgarien (007) – “Ilija und ich”

Nicht ein MUSS, sondern zwei

Am Sonntag will mich Ilija Trojanow besuchen. Ilija Trojanow, wer ihn nicht kennt, ist der vielleicht bekannteste auf deutsch schreibende bulgarische Autor. Dabei ist Ilija zu einhundert Prozent Bulgare – im Gegensatz zu mir. Seine Eltern sind 1972, Ilija war damals sieben Jahre alt, über Serbien nach Italien geflüchtet. Später haben sie in Deutschland politisches Asyl erhalten. Das bekannteste Buch von Ilija ist „Der Weltensammler“, es wurde sogar im Literarischen Quartett damals noch mit Marcel Reich-Ranicki besprochen, genauso wie sein Buch „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. Obwohl ich Ilija bereits auf zwei Lesungen erlebt habe, kenne ich ihn nicht persönlich. Unser persönliches Kennenlernen findet am Sonntag statt. Dass Ilija mich besucht, hat mit meinem Crowdfunding zu tun, einem Rückzugsort für Autoren, an dem es auch Esel gibt, den ich hier im Nordwesten Bulgariens ins Leben rufen will. Ich hatte Ilija im Frühjahr in einer e-mail von meinem Projekt geschrieben gehabt. Ich kenne Ilija zwar nicht persönlich, trotzdem tauschen wir hin und wieder e-mails aus. Das hängt mit meiner Eselwanderung quer durch Bulgarien zusammen. Die endete am Schwarzen Meer an einem kleinen Kap. Im letzten Ort vor dem Kap gab und gibt es hoffentlich noch eine kleine Kneipe, in der wir damals meine Ankunft gefeiert haben, und die Ilijas Onkel und Tante gehört. Aus diesem Zufall hat sich der e-mail Kontakt zu Ilija ergeben, der auch Bücher über Bulgarien geschrieben hat. Diese Bücher sind für mich die wichtigsten Bücher von Ilija. Auch weil ich immer wieder feststellen muss, dass viele Menschen nicht zwischen Bulgarien und Rumänien unterscheiden können, möchte ich die beiden Bücher von Ilija über Bulgarien kurz vorstellen. Das erste ist ein Sachbuch aus dem Jahre 1999. In der Erstausgabe heißt es noch „Hundezeiten“, die späteren Ausgaben haben den Titel „Die fingierte Revolution“. Warum der Titel geändert wurde, kann ich nicht sagen. Was ich weiß, ist, was es mit den „Hundezeiten“ auf sich hat, auf die Ilija anspricht. Anfang der Neunziger haben sich insbesondere ältere, allein lebende Menschen in den Städten Bulgariens einen Hund zugelegt, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten. Später haben die Hundehalter festgestellt, dass sie sich kaum alleine über Wasser halten können, geschweige denn noch einen Hund. Deswegen wurden diese im großen Stil vor die Tür gesetzt. Aus diesen vor die Tür gesetzten Hunde bildeten sich dann Hunderudel, die das Bild von Bulgarien über Jahre prägten. Wichtig ist für mich bis heute der Anfang des Buches: An alle Opfer des totalitären Regimes, an die in den Kerkern erschlagenen, an den Grenzen erschossenen, in den Lagern zu Tode geschundenen, an radioaktiven Folgeschäden verendeten, in der Armee verunglückten Menschen. – An alle Opfer der neuen, demokratischen Zeit, an die in ihrer Wohnung erfrorenen, aus Mangel an Medizin und medizinischer Betreuung dahingesiechten, in ihrer endlosen Verzweiflung sich selbst getöteten Menschen. Ilijas Buch „Macht und Widerstand“ ist ein Roman über die bulgarische Staatssicherheit, der 2015 erschien. Hier sind mir die letzten Worte die wichtigsten. Sie stammen von Konstantin, einem Widerstandskämpfer gegen die Staatssicherheit: Du hast keine Überzeugung, wenn du nicht bereit bist, für sie zu sterben. – Wahrer Geist ist Widerstand gegen den Geist der Macht. – Es hat sich gelohnt. Ob Ilija mein geplanter Rückzugsort für Autoren, an dem es auch Esel geben wird, genauso gefällt, wie mir seine Bücher über Bulgarien, wird man sehen. Falls ja, kennt Ilija eine Stiftung, die mein Projekt unterstützen könnte, was natürlich toll wäre. Mir persönlich ist das persönliche Kennenlernen mit Ilija das wichtigste. Darauf freue ich mich schon, und ich bin auch sehr gespannt. Auch wenn ich über Ilija als Mensch noch nichts sagen kann, so kann ich seine beiden Bücher über Bulgarien nur wärmstens empfehlen. Sie sollten für alle, die sich für Bulgarien interessieren, ein MUSS sein, so denke ich.

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Zurück in Bulgarien (006) – “Meine erste Woche”

Downtown Bulgarien
Das Ankommen in Bulgarien ist für mich immer das Schlimmste. Ich hatte hier bereits darüber geschrieben. Normalerweise brauche ich zwei Wochen zum Ankommen, mindestens aber zehn Tage. Jetzt ist eine Woche vorbei, ich bin noch nicht wirklich angekommen, habe aber schon alles erledigt, was ich mir vorgenommen hatte. Gestern früh begann dazu der letzte Akt. Am Montag bin ich bereits wegen dem Ölwechsel in der Werkstatt gewesen. Auf den Kühlwasserverlust angesprochen meinte der Maistor, er könne das heute nicht machen und auch morgen nicht. Ich solle am Mittwoch um 8:30 Uhr vorbeikommen, dann könne er mir sagen, ob er Zeit habe. Wenn er am Mittwoch keine Zeit hat, dann Donnerstag oder Freitag. Natürlich gibt es auch in Bulgarien Telefone, mit denen man anrufen kann. Aber manchmal kann man auch in Bulgarien nicht anrufen. Das ist wie mit der Gepäckaufbewahrung am Flughafen BER, die keine Gepäckaufbewahrung ist, sondern eine Lizenz zum Gelddrucken, die sich offiziell Service nennt. Pünktlich um 8:30 Uhr stand ich gestern in der Garage auf der Matte. Der Maistor war auch schon da. Ich hatte großes Glück, aber nicht nur weil der Maistor da war, sondern weil mein Wagen in dem Moment Kühlflüssigkeit verlor. Das tut er nicht immer. Und obwohl mein Wagen Kühlflüssigkeit verlor, war es nicht einfach für den Maistor, die Stelle zu finden, wo die Kühlflüssigkeit aus dem System entwich. Wäre in dem Moment keine Kühlflüssigkeit entwichen, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, herauszufinden, wo sich die undichte Stelle befindet. Dann hätte ich heute wiederkommen können und vielleicht morgen nochmal. Ich hatte das schonmal. Da gab es unter der Motorhaube so komische Geräusche. Brachte ich den Wagen in die Garage, waren die Geräusche weg. Die Meister fühlten sich veralbert und dachte, ich höre Stimmen. Gab es dann doch ausnahmsweise mal das Geräusch, konnten sie es nicht zuordnen und bagatellisierten es. Das Ende vom Lied war, dass es irgendwann unter der Motorhaube eine kleine Stichflamme gab, und zwar an der Lichtmaschine. Von dort kam das Geräusch, genau von den Abnehmern, also den Kabelenden. In D hätte man vermutlich die ganze Lichtmaschine gewechselt. Nicht so in BG. Hier werden nur die Kontakte erneuert. Das geht auch in D. Wenn man einen guten Maistor hat, am besten einen bulgarischen. In der Regel weiß es der Maistor in D aber nicht, oder will es nicht wissen, weil er einem lieber was Neues verkauft, was weniger Arbeit macht und mehr Geld bringt. Die Kontakte zu wechseln ist aufwendig. Man muss den Wagen dazu anheben. Alleine das dauert. Dann muss man die alten Kontakte ausbauen und die neuen einbauen. In der Zeit hat man drei Lichtmaschinen gewechselt. Die wäre natürlich teurer gewesen, als das Wechseln der Kontakte, was mich 130 Lewa, also 65 Euro gekostet hat damals. Doch zurück zum Kühlwasserverlust, dessen Ursache vom Maistor gefunden war, weil der Wagen in dem Moment Kühlwasser verlor. Üblicherweise muss ich dem Maistor in BG sagen, was das Problem ist. Das Problem war ein Schlauch, der porös geworden war. Der wurde gewechselt vom Maistor, was keine fünf Minuten gedauert hat. Danach noch etwas Kühlwasser aufgekippt und fertig war der Lack. Gekostet hat die ganze Sache 30 Lewa, also 15 Euro. In D hätte ich die Werkstatt vermutlich nicht unter 100 Euro verlassen. In BG gab es am Ende noch ein nettes Gespräch mit dem Maistor, der wissen wollte, woher ich komme und was ich so mache. Das wichtigste war aber der Hinweis darauf, dass ich jederzeit wiederkommen kann, wenn ich etwas habe. Auch wenn ich mich über das Angebot freue, hoffe ich natürlich, dass ich es nicht so schnell in Anspruch nehmen muss. Aber man weiß nie, wie sich eine kleine Veränderung auf den Gesamtorganismus auswirkt. Ist beim Menschen nicht anders. Und Autos sind bekanntlich auch nur Menschen, nicht auf zwei Beinen zwar, aber auf vier Rädern.

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Zurück in Bulgarien (005) – “Heiße Berliner Luft”

Kühle bulgarische Gebirgsluft

Gestern war ich im Nachbarort wegen dem Ölwechsel, den ich letztes Jahr schon machen sollte. Zum Ausgleich dafür, dass ich ihn letztes Jahr nicht gemacht habe, wollte ich diesmal nicht nur den Ölfilter, sondern auch den Luftfilter wechseln lassen. Da man diesen bestellen musste, hatte ich mehr als vier Stunden Zeit. Ich rief bereits erwähnten Landsmann an, der in Berlin bei mir um die Ecke wohnt, wenn er nicht gerade so wie jetzt in Bulgarien ist. Dass er so viel in Bulgarien ist, hat damit zu tun, dass er mit einer Bulgarin zusammen ist. Gemeinsam haben sie eine Art Datsche im Wald, wo es weder Wasser noch Strom gibt. Der Begriff Datsche ist also eher mit Vorsicht zu genießen, Laube trifft es vielleicht eher. Jedenfalls leben sie dort wie die Hippies, allerdings ganz anders als die Hippies, die gegenüber von meiner Berliner Bohemen Bude wohnen. Die Hippies dort sind Party People, die Strom verbrauchen, als gäbe es kein morgen. Außerdem nehmen sie viel Raum ein und sind vor allem eins: laut. Ich gehe davon aus, dass sie sich den größten Teil ihrer Hirnmasse bereits vor Jahren weggekifft, weggesoffen und weggeschnifft haben. Die Hippies hier sind das genaue Gegenteil davon, weswegen ich sie anrief und fragte, ob sie Zeit hätten. Die hatten sie, obwohl sie gerade wie immer viel zu tun haben an ihrer Datsche, die diesen Namen nicht verdient. Kennengelernt habe ich das Paar vor jetzt zwei Jahren auf einer Ausstellung im Ort, auf der ich auch meinen englischen Freund Jerry, der am liebsten Deutscher wäre, kennengelernt habe. Die Ausstellung war nicht der Rede wert, aber deswegen geht man auch nicht auf Ausstellungen. Ich zumindest nicht, insbesondere nicht in Deutschland, wo Kunst seit vielen Jahren Alles oder Nichts bedeuten kann, in den allermeisten Fällen letzteres. Ich will ein aktuelles Beispiel geben, damit klarer wird, was ich meine. Ein Berliner Bekannter und nicht ganz unbekannter Künstler schrieb mir vor wenigen Tagen, dass auch er der Meinung sei, dass die Corona-Zeit in Deutschland aufgearbeitet werden müsste. Daraufhin schlug ich ihm vor, dies gemeinsam zu tun. Er hat, so wie ich, eine Seite im Internet. Meine Idee war, dass ich auf meiner Seite seinen Gesichtspunkt veröffentliche und er im Gegenzug meinen auf seiner, und dass wir unsere beiden Seiten miteinander verlinken, so dass jeder, den es interessiert, beide Standpunkte lesen kann. Erst hieß es von seiner Seite daraufhin, er schaffe es zeitlich nicht. Dann meinte er, er wüsste nicht, was er mir antworten solle, weil meine Argumentation unsachlich sei. Als nächstes schrieb er, dass es ihn überfordern würde, mit mir in eine öffentliche Diskussion zu treten. Am Ende blieb übrig, dass er diesen Dialog lediglich nicht öffentlich führen wolle. Dass er die Öffentlichkeit scheut, verstehe ich, denn für ihn steht etwas auf dem Spiel. Wie viel genau, kann ich nicht sagen, aber mit Sicherheit mehr als für mich. Für mich trifft das zu, was Marx über den Proleten gesagt hat: Ich habe nichts zu verlieren als meine Ketten – sieht man von meinem Auto ab, das nach dem Ölwechsel jetzt doppelt so viel Wert ist. Hahaha. Was die Aussage meines Berliner Bekannten angeht, dass die Corona-Zeit zwar aufgearbeitet werden müsste, was aber andere erledigen sollen, so hat sie keine Bedeutung, oder wie es mein Freund Dietrich einmal formulierte: Den Gutmenschen erkennt man daran, dass er, im Gegensatz zum guten Menschen, die gute Tat delegiert. Die Idee meines Berliner Bekannten und Künstlers war wie so vieles in der heutigen Kunst nicht so gemeint gewesen und am Ende mal wieder nur heiße Berliner Luft. Ein Grund, warum ich um Künstler seit einiger Zeit einen großen Bogen mache. Schon früher, als ich noch getrunken habe, bin ich in Berlin nur wegen dem Alkohol auf ihre Ausstellungen gegangen. Es soll aber auch Ausnahmen geben, die die Regel bestätigen. Von einer wusste gestern Paul zu berichten: Ein Berliner Künstler, der eine Karikatur von Karl Lauterbach mit ganz vielen Spritzen gemalt haben soll. Das fand unser Gesundheitsminister gar nicht witzig, weswegen er über Twitter dazu aufgerufen haben soll, das Kunstwerk zu zerstören. Ein schönes Verständnis von Kunstfreiheit, jetzt nicht von Paul, sondern von Karl. Den Landsmann Paul und seine bulgarische Partnerin Paula, wie ich die beide nennen möchte, sind die, die ich neben Jerry vor zwei Jahren auf einer Ausstellung hier in Bulgarien kennengelernt habe. Es ist also nicht so, dass ich gar nicht mehr auf Ausstellungen gehe, auch hier bestätigen die Ausnahmen die Regel. Ich gehe noch auf Ausstellungen, aber nicht der Kunst und schon gar der Künstler wegen. Ich gehe wegen den Leuten hin. Leute wie Jerry, Paul und Paula. Mit den beiden letzteren saß ich gestern in einem der zahlreichen Cafés im Ort, wo wir uns bei einem „Kurzem“, dem bulgarischen Espresso, drei Stunden lang ausgiebig unterhalten haben. Fast vier Monate waren sie hier, jetzt gehen sie wieder zurück nach Berlin, so wie vor zwei Jahren auch. Damals war es später geworden, vermutlich September, wenn nicht gar Oktober. Seinerzeit haben sie sich hier in Bulgarien die Impfung gekauft, was 250 Euro gekostet hat, wenn ich mich richtig erinnere. Auch ich hätte mir die Impfung kaufen können, mich aber dagegen entschieden. In meinem Beitrag „Bulgarien – die große Freiheit“ auf Multipolar habe ich darüber geschrieben. Paul und Paula haben sich die Impfung gekauft, um in Berlin ihre Ruhe zu haben. An die große Corona-Erzählung haben sie, genauso wie ich und die allermeisten Bulgaren, nie geglaubt. Auf den Trick mit der Solidarität sind Paul und Paula nicht hereingefallen, obwohl auch ihnen so wie allen echten Linken Solidarität wichtig ist. Allerdings Solidarität mit richtigen Menschen, – und nicht mit selbst ernannten Menschenfreunden, den Gutmenschen unter den Superreichen, die sich mithilfe ihrer nützlichen Idioten, Solidaritätsgläubige so genannte Linke, eine Goldene Nase verdient haben. Nach Berlin gehen sie, weil dort das Geld ist. Jedenfalls mehr als in Bulgarien, zumindest noch. Ansonsten geht ihnen die Stadt ähnlich wie mir auf die Nerven, allen voran der Leute wegen. Klar, auch in Bulgarien hat jeder seine Macke, genauso wie Paula, Paul und ich eine Macke haben. Aber die Macken der Menschen in der deutschen Hauptstadt sind besondere Macken. Auch in Sachen Macke gibt es einen deutschen Sonderweg, das ist keine Überraschung. Ebenso, dass aufgrund der deutschen Macke die Welt und mit ihr Bulgarien mit jedem Tag behämmerter wird. Die größte Macke der Menschen in der deutschen Hauptstadt ist ihre vorgespielte Kühlheit, hinter der sich Unsicherheit und Angst verbergen. Auf den ersten Blick sieht es immer so aus, als würden sie alle bemitleiden, die nicht so kühl sind wie sie, beispielsweise mich, Paul und Paula. Die Wahrheit ist, dass wir sie bemitleiden müssten, allen voran wegen ihrer Vereinsamung und Entwurzelung, wenn wir Zeit dazu hätten. Nicht nur, dass wir keine Zeit haben. Mit Mitleid ist diesen Menschen auch nicht geholfen. Sie müssen selbst den Schmerz fühlen. Das steht ihnen, davon bin ich fest überzeugt, noch bevor. Oder sie werden krank, was sie streng genommen schon sind. Dann bleibt eigentlich nur noch böse übrig. Auch böse sind sie bereits, denn nichts anderes ist ihre aufgesetzte Kühlheit. Praktisch sind sie schon tot, so wie permanent unterkühlte Körper am Ende einfach nur tot sind, tot sein müssen. Dass diese Leichen auf zwei Beinen den eigenen Tod sozusagen verpasst haben, liegt daran, dass der Tod aus ihrem Leben ausgeschlossen ist. Der Tod kommt dort nicht vor. Für sie ist der Tod ein Fehler, ein Fehler im System, in ihrem System. So krank sind diese Menschen. Genau darüber habe ich gestern mit Paul und Paula gesprochen. Kann man sich ein solches Gespräch unter diesen kühlen Menschen in einem Berliner Café bei einem Latte mit Hafermilch vorstellen? Wohl nicht. In Bulgarien sind sie normal. Auch am Nachbartisch in dem Café, in dem wir gestern saßen, wurden ähnliche Themen besprochen. Fast könnte man meinen, die Bulgaren wären alles Philosophen. Ganz so ist es nicht. Aber doch in dem Sinne, dass das Philosophieren auch die Vorbereitung auf den Tod ist.

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