Heute fahre ich in die Stadt Vraca. Vraca ist knapp 40 Kilometer entfernt von meinem Dorf. Ich war auch schon einmal Einwohner von Vraca. Das ist jetzt einige Jahre her. Damals war ich mit einer Frau aus Vraca verheiratet. Vraca ist in Bulgarien dafür bekannt, dass dort nicht einmal die Krähen landen würden. Für mich kam diese Information zu spät. Ich war bereits in Vraca gelandet. Genau genommen hatte ich die Stadt schon wieder verlassen gehabt, als ich zum ersten Mal von diesem bulgarischen Sprichwort hörte. Obwohl ich mich ganz gut auskenne in Bulgarien, so weiß ich doch nicht alles. Jetzt fahre ich gerne mal nach Vraca. Heute gibt es ein Konzert vom Vraca Symphonie Orchester. Möglicherweise wird es sogar als Live Stream im Internet übertragen. Das Orchester hat viele Musiker aus dem Ausland. Damit alle sich verstehen, wird englisch gesprochen. Das weiß ich von meinem englischen Freund Jerry, der Musiker ist und auch im Vraca Symphonie Orchester spielt, heute jedoch nicht. Ich fahre auch nach Vraca, um meine guten Klamotten zu tragen. Seit ich in Bulgarien bin, habe ich mich in den zahlreichen Second Hand Läden mit Hosen, Mänteln, Hemden, Pullovern und Schuhe eingedeckt, die ich in meinem Dorf nicht tragen kann. Die Klamotten sind dafür zu gut. Sie sind, wie wir früher sagten: Für Gut! Und da kommt jetzt ausgerechnet Vraca ins Spiel, also fürs Auftragen meiner Klamotten. Dass ich mir diese Klamotten gekauft habe, das liegt auch an meinem englischen Freund Jerry, aber nicht nur. Jerry ist der bestgekleidetste Mann Bulgariens – das ist keine Übertreibung. Wenn ich Jerry darauf anspreche, sagt er nur, das sei britisch. Keine Ahnung, ob das stimmt. Jedenfalls hat Jerry etwas in mir geweckt, was tief in mir geschlummert hat, und zwar meine Liebe zu guter Kleidung. Viele Jahre habe ich mich wie ein Arme-Leute-Kind gekleidet, wie meine Mutter immer sagte. Damals war ich jung und tat es aus Protest. Jerry hat diese tief in mir verborgene Leidenschaft für Mode wiederbelebt. Eine ernsthafte Konkurrenz bin ich deswegen aber nicht für ihn, oder besser: noch nicht! Die Klamotten, die ich mir gekauft habe, haben alle nicht viel Geld gekostet, das muss ich dazu sagen. Ich will ein paar Beispiele nennen, damit es klarer wird: ein Paar dunkelbraune Knöchelschuhe aus Leder von Bugatti neu für 20 Euro, ein dunkelblauer Wollmantel ebenfalls neu von Macy’s für neun Euro und ein ebenfalls dunkelblauer Daunenparka von Esprit so gut wie neu für 14 Euro. Den Parka habe ich auch schon in meinem Dorf getragen, so ist es nicht, aber die meisten Klamotten sind doch eher für die Stadt bestimmt. Ich schreibe das auch, weil es stimmt, was ich von den Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA) in Berlin mitgenommen habe, und zwar dass die Summe aller Süchte immer gleich ist. Meine Klamottensucht habe ich in den Griff bekommen. Als ich neulich in Sofia war, war ich zwar auch in Second Hand Läden, habe mir aber dort nichts gekauft, nicht ein einziges Stück. Ich nenne dieses Training auch therapeutisches Shoppen. Ich wäre auch ein idealer Shopping-Guide, selbst für Frauen, denn ich weiß, wo es was gibt und zu welchem Preis. Da ich nicht nur meine Klamottensucht, sondern auch meine Büchersucht unter Kontrolle habe, zumindest halbwegs, ist wieder etwas Altes in meinen Fokus geraten, und zwar Frauen, ich erwähnte sie gerade schon. Bei dem Meeting in Sofia habe ich mit fünf Frauen an einem Tisch gesessen. Zwei Frauen kamen im Laufe des Abends hinzu, oder besser: haben gewechselt, so dass es eigentlich sieben waren. Gut, es waren nicht Sieben auf einen Streich, aber trotzdem sind sieben Frauen nicht ganz ohne. Ich meine, das muss ein Mann erstmal schaffen, sieben Frauen zu unterhalten. Komischerweise kam dann irgendwann der Alkohol ins Spiel. Einige der Frauen verstanden nicht, dass ich als Mann keinen Rakija trinken würde. Ein Mann, der kein Rakija trinkt, wäre kein richtiger Mann, meinten sie. Da hatten sie selbst schon einige getrunken gehabt. Betrunkene Frauen finde ich persönlich ganz schlimm, sie turnen mich total ab. Ich glaube, ich habe noch nie mit einer betrunkenen Frau geschlafen. Selbst, als ich selber noch getrunken habe. Das ist der Nachteil, wenn man nicht trinkt. Man bekommt den Unsinn, den andere von sich geben, total mit. Aber ich will nicht unfair sein. Nicht alle sieben Frauen haben getrunken. Und nahezu alle von ihnen waren ebenfalls sehr gut angezogen. Fast so gut wie ich … 😉
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Ein Leser meines Blogs und guter Freund, der mich dieses Jahr schon zweimal hier in Bulgarien besucht hat, fragt mich in seiner heutigen e-mail, was ich mir zu Weihnachten wünsche würde. Das hat mich sehr berührt, denn mein neuer Freund hat so viel für mich getan, dass ich einen ganzen Beitrag darüber schreiben könnte. Im Moment trinke ich besten englischen Tee, den er mir in Form eines speziellen Tee-Weihnachtskalenders zukommen ließ. Was brauche ich mehr?!? – Aber möglicherweise bist du noch auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk. Dann habe ich etwas für dich, und zwar obiges Buch von Jordan Raditschkow. Es ist eine Erstübersetzung aus dem Deutschen, die dieses Jahr beim Berliner eta Verlag erschienen ist. Der Übersetzer Andreas Tretner hat es mir kürzlich zukommen lassen. Ich kenne Andreas persönlich, er ist einer der besten Übersetzer aus dem Bulgarischen. Andreas gehört offenbar auch zu den Lesern meines Blogs, denn er wusste, in welchem Dorf ich wohne. Von meinem Dorf aus hat man einen wunderbaren Blick auf die Doppelspitzen der Todorini Kukli, die 1785 Meter hoch sind, und die ich die bulgarischen Twin Peaks nenne. Den besten Blick auf sie habe zweifellos ich von meiner Hütte, das sagt auch mein Bürgermeister, und der muss es wissen. Der Hauptprotagonist in dem von Andreas aktuell aus dem Bulgarischen übersetzten Buch „Die Schleuder“ von Jordan Raditschkow schwärmt auch von dem Blick auf die Todorini Kukli. Raditschkow selbst kommt aus einem Dorf in der Nähe, das irgendwann einem Staudamm weichen musste. Das Original-Dorf, aus dem Raditschkow ursprünglich kam, ist aber nicht das im Buch beschriebene. Und es ist auch nicht mein Dorf, sondern ein vom Autor ausgedachtes, fiktives Dorf. Eigentlich geht es auch gar nicht um das Dorf, sondern um den Blick, den ich Tag für Tag aufs Neue genieße, wenn nicht, so wie jetzt, die Todorini Kukli in Nebel gehüllt sind. Also selbst ich sehe meine geliebten bulgarischen Twin Peaks gerade nicht. Es geht also nicht nur dir so. Du kannst aber ein Gefühl für den Blick bekommen, denn er ist in dem kürzlich erschienen Buch „Die Schleuder“ von Jordan Raditschkow, das von Andreas Tretner ins Deutsche übertragen wurde, gut beschrieben, weswegen ich es als Weihnachtsgeschenk nur dringend empfehlen kann. Es gibt kein besseres Geschenk, einfach weil es keinen besseren Blick gibt.
PS: Wer sie noch nicht hat, dem lege ich auch die beiden von mir herausgegebenen und beim Wieser-Verlag in Klagenfurt erschienenen Bücher „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ und „Nach Chicago und zurück“ von Aleko Konstantinow ans Herz. Auch hier gilt, dass es kein besseres Weihnachtsgeschenk gibt, einfach weil es keinen anderen bulgarischen Autor gab, der so viel Humor, Ironie und Intelligenz besaß wie Aleko Konstantinow. Die von ihm geschaffene Figur des bauernschlauen „Bai Ganju“ ist bis heute der bekannteste literarische Charakter in Bulgarien.
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