Bericht aus Bulgarien (150)

“Wendekreis des Krebses” neben “Unterwegs” (“On the Road”)

Übers Wochenende haben mich Leser meiner Artikel und meines Blogs besucht. Ganz genau war es Joachim aus Bremen zusammen mit seiner Frau. Joachim ist darüber hinaus einer meiner Sponsoren, die ich bei den Anonymen Alkoholiker nie hatte. Ich würde ihn eher als “großen Bruder” bezeichnen, aber im positiven und nicht im Orwellschen Sinne. Seine Frau ist Therapeutin. Dazu muss man wissen, dass ich auch einmal Therapeut werden wollte und sogar einige Semester Psychologie studiert habe.

Am Ende sollte es nicht sein, dass aus mir ein Therapeut wird. Wie sollte ich anderen Menschen helfen, wenn ich mir selbst nicht helfen kann. So bin ich Taxifahrer geworden, oder auch “Straßendoktor”. Meine Universität war und ist die Straße. Das ist keine Übertreibung. Auf ihr habe ich mehr gelernt als in allen Universitäten, die ich besucht habe. Zum Schluss war ich in meinem Taxi vor allem Medium, das seinen Fahrgästen zugehört hat. Denn ich wollte verstehen (und nicht bewerten), warum jemand so tickt, wie er eben tickt.

Auch wenn ich selbst viel erzählt habe, habe ich meinem Besuch auch zugehört. Das ist wichtig, gerade in unseren Tagen. In meinem Taxi hatte ich genug Zeit zum Zuhören. Gerade wenn man sich nicht kennt, oder noch nicht, ist zuhören ganz wichtig. Denn es ist auch im Alter möglich, neue Menschen kennenzulernen und Freundschaften zu schließen, auch wenn es insgesamt aus verschiedenen Gründen schwerer wird. Man muss aber zuhören können.

Ich kann meine Erfahrung mit meinen Besuchern nur jedem empfehlen. Lerne neue Menschen kennen. Tausche dich mit ihnen aus, gerne auch schriftlich, beispielsweise per e-mail. Und dann spring irgendwann ins kalte Wasser. Treffe sie, verbringe Zeit mit ihnen oder nimm sie ganz und gar bei dir auf. Ein Punkt übrigens, den ich bei der ganzen Flüchtlingsdebatte vermisse. Es wird gerne über Flüchtlinge gesprochen. Aber wer redet eigentlich mit ihnen? Und wer nimmt sie bei sich auf?

Meine beiden Besucher sind keine Flüchtlinge. Oder sollte ich besser sagen: noch nicht? Zumindest sind sie gerade recht komfortabel mit einem Mietwagen in den Schluchten des Balkans unterwegs. Um ganz genau zu sein: Sie sind just in diesem Moment in der früheren Hauptstadt Veliko Tirnowo in Zentralbulgarien, von wo aus ich eben einen Bericht von Joachim über den gestrigen Tag erhalten habe.

Der Bericht liest sich gut. Ich denke, die beiden machen alles richtig. Ich meine, dafür sind wir doch damals ’89 auf die Straße gegangen. Damit wir uns die Welt und die Straßen auf ihr ansehen können. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Für Joachim und seine Frau ist es die erste Reise nach Bulgarien. Es ist also nie zu spät. Und vielleicht ist es auch nicht die letzte. Es bleibt spannend.

PS: Joachim und seine Frau haben in Bremen eine Gruppe besucht, die sich regelmäßig getroffen hat, um sich zum Thema “Würde” auszutauschen. Ich bin in Berlin zu Meetings der Anonymen Alkoholiker, aber auch zu Treffen von Heilpraktikern gegangen. Beides war sehr wichtig für mich, genauso wie die Treffen zum Thema “Würde” wichtig waren für Joachim und seine Frau. Ich erwähne die Treffen deswegen, auch wenn sie eigentlich etwas selbstverständliches sein sollten, weil sie es zu Corona-Zeiten nicht waren, sondern etwas konspiratives hatten, was mich sehr an die DDR erinnert hat. Diese Zeit ist noch (lange) nicht vorbei. Davon bin ich fest überzeugt. Wir leben auch weiterhin in besonderen Zeiten, in denen Selbstverständliches nicht immer selbstverständlich ist. Alleine deshalb sind solche Treffen und Meetings, egal ob in Bremen, Berlin oder den Schluchten des Balkans wichtig.

Foto&Text TaxiBerlin

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