Bericht aus Bulgarien (179) – “Angst zerstört Demokratie”

 

Bald auf Bulgarisch

Neben den drei großen Paketen mit Büchern warteten auch zwei kleine in der Kneipe von meinem Bürgermeister bei meiner Rückkehr aus Deutschland auf mich. Eines davon war vom Verlag Frank&Timme in der Wittelsbacher 27a in Berlin-Wilmersdorf, und auch in ihm war ein Buch. Aber nicht irgendein Buch, sondern das neue Buch “Angstgesellschaft” von Hans-Joachim Maaz, dem Therapeuten meines Vertrauens, der mir in Berlin auch schon mal im Taxi saß. Viel ließe sich zu dem Buch sagen, das ich gestern in einem Zug durchgelesen habe, und das ich nur jedem ans Herz legen kann, der verstehen möchte, was die letzten zweieinhalb Jahre mit unserer Psyche gemacht haben. Ich will es bei zwei Dingen belassen. Das ist zum einen die Würde als Mensch, die in dem Buch thematisiert wird, und wie wir sie trotz permanent geschürter Angst und daraus resultierenden immer diktatorischen Verhältnissen bewahren können. Zum anderen sei noch der Umstand erwähnt, dass das Buch gerade von meinem Freund, dem Übersetzer Martin Petrushev ins Bulgarische übersetzt wird. Martin habe ich vor ziemlich genau einem Jahr zufällig an dem letzten verbliebenen Buchstand in der bulgarischen Hauptstadt Sofia kennengelernt, seither sind wir befreundet. Damals wollte er noch nach Deutschland, um dort sein Studium fortzusetzen, wovon ich ihm vorsichtig abgeraten habe. Warum es am Ende nicht dazu kam, auch das ist in dem Buch von Hans-Joachim Maaz beschrieben. Im Januar hat Martin dieses Interview mit mir über die Proteste gegen die Regierung geführt, die neulich wie zu erwarten war durch ein Misstrauensvotum abgewählt wurden ist, und nun übersetzt er das von mir empfohlene Buch “Angstgesellschaft” von Hans-Joachim Maaz, das demnächst beim in Sofia ansässigen Ost-West-Verlag erscheinen wird. Das schöne daran, dass so viele insbesondere junge Bulgaren ihr Land verlassen haben, ist, dass man sich kennt und die Wege zwischen den wenigen im Land verbliebenen kurz sind. Alles hat eben immer seine zwei Seiten, selbst ein Exodus.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Berlin (49) – “Drücken nochmal”

Drücken in Sofia / Bulgarien

Eine Sache ist mir noch zum “Drücken” eingefallen, die ich unbedingt loswerden möchte. Damit soll es dann aber wirklich zum Thema gewesen sein, zumindest für den Moment, und auch zu Berlin, wohin mich nichts zurückzieht. Anfang vergangenen Jahres habe ich eine achtwöchige Reha “Sucht” in der Stadt gemacht, bei der alle gängigen Corona-Maßnahmen galten, allen voran das Tragen der Maske und das Abstand halten. Die Reha-Gruppen waren nicht starr sondern fließend, es kamen ständig neue Leute und es wurden Leute verabschiedet. Die erste Verabschiedung, die ich in meiner Gruppe miterleben durfte, war genau an meinem ersten Tag in der Reha, und sie sah so aus: die zu verabschiedende Person wurde von allen anderen in den Arm genommen und gedrückt, auch von der Psychologin, die genaue Bezeichnung war Bezugstherapeutin, die unsere Gruppe betreute. Solche Verabschiedungen fanden in regelmäßigen Abständen statt, und es war immer dasselbe Ritual, so wie sich Menschen schon immer verabschiedet haben – man hat sich wie die beiden auf dem obigen Foto gedrückt und geherzt, und sich vor allem für die weitere Abstinenz alles Gute gewünscht. Von niemandem, allen voran nicht von unserer Bezugstherapeutin, ist dieses normal-menschliche Verabschiedungsritual jemals in Frage gestellt oder gar verweigert worden.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (178) – “Schreiben in den Schluchten des Balkans”

Wer schreibt, der bleibt – hoffentlich!

Mein Bürgermeister hatte mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass drei schwere Pakete für mich angekommen seien, da war ich gerade auf dem Weg zum Flughafen BER. Insgesamt habe ich sieben Bananen-Kisten voll mit Büchern von Berlin nach Bulgarien geschickt, das ganze mit Hermes. Die Pakete dürfen dort 25 kg schwer sein, sind mit 500 € versichert und kosten 18,90 €, was vergleichsweise billig ist. Die Pakete waren eine Woche unterwegs, was absolut OK ist. Die Verpackung war etwas beschädigt, die Leute sind neugierig, aber die Bücher sind alle da.

Mein Bürgermeister hatte die drei Pakete bei sich in der Kneipe abgestellt. Er war selbst da, als ich sie mir gestern dort abgeholt habe. Bei der Gelegenheit fragte ich ihn, ob er mir sagen könne, wo ich im Nachbarstädtchen den TÜV für mein Auto machen lassen könne, der war letzten Monat abgelaufen. Wenn ich eine halbe Stunde warten würde, würde er mich hinbringen, meinte er. Und so wartete ich auf ihn. Beim TÜV, der in Bulgarien jedes Jahr gemacht werden muss, wurden dann vor allem die Bremsen kontrolliert. Am Ende gab es eine neue Plakette, aus der hervorgeht, dass mein Benziner Euro 3 hat. In Berlin hatte er noch Euro 4. In Bulgarien ist eben doch alles anders. Gekostet hat der TÜV 45 Lewa (23 Euro).

Mein Bürgermeister meinte auf Nachfrage, dass der durch ein Misstrauensvotum abgewählte Ministerpräsident Petkow (auch) den bulgarischen Staat beklaut hätte. Er sprach von vier oder fünf Milliarden, was ich in der Schnelle nicht kontrollieren konnte. Mein Bürgermeister ist sich sicher, dass Petkow das Klauen bei seinem Studium in Harvard (und nicht in Bulgarien) gelernt hätte, was ich ebenfalls nicht kontrollieren konnte in dem Moment. Jedenfalls fehlt jetzt das Material, das der Bürgermeister letztes Jahr noch für unseren Weg besorgt hat, und das wir selbständig aufgebracht haben. In Bulgarien hat es sehr viel geregnet in meiner Abwesenheit, so dass alles sehr grün ist, aber unser Weg eben auch sehr ausgespült. Vielleicht komme ich ihn bald nicht mehr runter mit meinem Auto – trotz neuem TÜV. Dann habe ich zumindest genug zum Lesen, aber auch zum Schreiben. Meine kleinen Notizbücher, in denen ich immer alles aufschreibe, habe ich fast vergessen.

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (177): “Fuck physical Distancing!” – “Vergiss körperliche Distanz!”

In der Heimat hat man das sich in den Arm nehmen verlernt, wie ich bei meinem Aufenthalt am eigenen Leibe erfahren durfte. Bulgarien, das kleine Land am Rand, das uns in der Zeit voraus ist, ist auch was das Drücken lernen angeht eine gute Schule für den obrigkeitshörigen Deutschen. Denn die Schluchten des Balkans wären nicht die Schluchten des Balkans, würde man dem Westen bei seinem sozialen Distanzierungswahn folgen. Dem Bulgaren ist aber nicht nur nur die soziale Distanz fremd, sondern vor allem die körperliche. So wie man hier immer und überall lauter spricht, so kommt man sich auch immer und überall näher, und zwar physisch. Allen distanzphanatischen Deutschen kann deswegen vom Besuch des Balkans nur abgeraten werden, ebenso allen Maskenfetichisten. Folgende Aufnahmen entstanden auf dem am vergangenen Wochenende in Sofia stattgefundenen “A to Z Jazz-Festival”, bei dem an drei Abenden jeweils mehr als 10.000 Menschen auf engsten Raum zusammen kamen. Menschen mit Masken wurden dabei nicht gesichtet. Dafür Menschen, von denen der Deutsche die einfachsten menschlichen Dinge lernen kann, wie z.B. das sich in den Arm nehmen:
Es beginnt mit dem gegenseitigen Ausbreiten der Arme verbunden mit ein Aufeinanderzugehen beider Parteien. Menschen können dabei an einem vorbei gehen, das ist absolut möglich und in Bulgarien auch die Regel.

Die geöffneten Arme umschließen beiderseits den Körper des jeweils anderen vollständig. Auf beiden Gesichtern ist die Vorfreude auf den bevorstehenden Körperkontakt deutlich zu erkennen.
Dem Umschließen des jeweils anderen Menschen mit den eigenen Armen folgt ein heftiges aber vor allem herzliches Aufeinanderdrücken der Körper.

Dem Aufeinanderdrücken der beiden Körper sind keine zeitlichen Grenzen gesetzt, insbesondere nicht in Bulgarien, wo die Uhren anders ticken.

Demzufolge kann das Aneinanderpressen der Körper hier auch schon mal etwas länger dauern.
Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (176) – “Die Bulgarischen Stadtmusikanten”

Etwas Besseres als den Tod finden sie überall
In Bulgarien ist vieles anders und einiges sogar umgedreht. Ja, also Kopfnicken, bedeutet Nein. Nein wiederum, bei uns das Schütteln des Kopfes, beim Bulgaren eher ein hin und her wiegen desselbigen, heißt Ja. Die Bulgarischen Stadtmusikanten können hier sowohl Kuh, Ziege und Hase sein, aber auch Pferd, Schwein, Gans und Hahn samt Spatz auf dem Boden (nicht in der Hand!) sein. In Bulgarien hat man als Stadtmusikant also die Wahl. Gleich haben sie mit den Bremer Stadtmusikanten ihr Motto, dass man etwas Besseres als den Tod überall findet. In Bulgarien sowohl im sprichwörtlichen, als auch im wortwörtlichen Sinne, denn obige Tierdarstellung in Rot ist die Werbung eines hiesigen Metzgers. Es ist also auch gleichzeitig eine Warnung. Dass der Esel dabei fehlt, könnte mit Orwells “Farm der Tiere” zu tun haben. In dem Klassiker ist der Esel Benjamin das klügste Tier, das, weil er lesen kann, den für das Pferd Boxer, das sich zu Tode geschuftet hat, was dem Esel Benjamin nicht passieren könnte, angekündigten Krankenwagen als einziger als Abdecker identifiziert. Es stimmt wirklich: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Manchmal reicht es aber auch aus, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
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Bericht aus Bulgarien (175) – “Umsonst und draußen”

 

John McLaughlin in Sofia
Für meinen Empfang in Bulgarien hat man in Sofia keinen geringeren als John McLaughlin auf die Bühne gebracht. Dazu muss man wissen, dass das kleine Land am Rand derzeit keine Regierung hat. Die alte Regierung, die von Anfang keine Mehrheit im Land hatte (wie auch? bei 40 Prozent Wahlbeteiligung!) wurde aber nicht gestürzt, wie in der Heimat behauptet, sondern mittels Misstrauensvotum im Parlament abgewählt. Ein ganz normaler Vorgang in einer Demokratie. Der angebliche Sturz ist ein alternativer Fakt, Fake News. Alternativer Fakten bedient sich auch der ukrainische Botschafter in Berlin, ich hatte an dieser Stelle über ihn geschrieben. Dass jetzt auch die Berliner Zeitung über ihn und seine alternativen Fakten schreibt, spricht für sie. Kein alternativer Fakt ist, dass obwohl Bulgarien gerade keine demokratisch gewählte Regierung hat (oder vielleicht auch gerade deswegen) ein Jazz-Urgestein wie John McLaughlin umsonst und draußen, so wie es in Berlin in Neunzigern üblich war, in der bulgarischen Hauptstadt auftritt. Das “A to Z Jazz-Festival” ist aber nicht nur umsonst und draußen, sondern auch extrem gut organisiert, so wie hoffentlich bald das ganze Land. Dazu braucht es klare und gerade Menschen und keine, die alternative Fakten und Fake News verbreiten. Vorher müssen die richtigen Fragen gestellt werden, wie es die Berliner Zeitung tut: “Wer zieht da welche Strippen? Wer verfolgt welche Interessen?”
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Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (174) – Man sieht nur die im Lichte

Hier wird demnächst nur 550 Metern entfernt von einer bereits existierenden Filiale Sofias nächster Starbucks aufgemacht. Im Moment lebt noch eine Frau vor dem Eingang und genießt den Schatten. In Sofia scheint mächtig die Sonne und es sind 33 Grad. Gerade gewittert es etwas und regnet leicht. Auch davor ist die Frau geschützt – noch. Denn demnächst wird Starbucks hier eine neue Filiale eröffnen. Ich war noch nie bei Starbucks, so wie ich noch nie mit einem Uber gefahren bin. Lieber laufe ich und verzichte auf Kaffee, trinke – so wie die Frau – Mineralwasser.

Foto&Text TaxiBerlin