Alleine im Ohrensessel

In Thomas Bernhards 1984 erschienen Roman “Holzfällen – Eine Erregung” kommentiert der Ich-Erzähler in einem Ohrensessel sitzend eine Wiener Abendgesellschaft, zu der er eingeladen wurde. Ich habe keinen Ohrensessel, und bin auch nicht in Wien, sondern in den Schluchten des Balkans, wo es auch keine Abendgesellschaften gibt. Einladungen gibt es dagegen schon, so ist es nicht. Die bulgarische Gastfreundschaft ist bis heute sprichwörtlich – zumindest auf dem Land. Die Menschen in den großen Städten sind auch in Bulgarien verwestlicht, wenngleich zwischen meinem Berliner Stadtbezirk, dem Friedrichshain, und dem hipsten Stadtbezirk von Sofia Welten liegen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Grüne Partei, die es auch in Bulgarien gibt, überhaupt noch zu Wahlen antritt. 2014 erreichte sie bei den Parlamentswahlen 0,2 % also 7.456 Stimmen, und das landesweit.

Zurück zu mir und meinem Sessel in den Schluchten des Balkans, auf dem ich viel Zeit verbringe – alleine. Immer mehr Menschen können heute nicht mehr alleine sein. Auch dieses Phänomen ist in den großen Städten ausgeprägter als auf dem Land. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte schon den ein oder anderen wurzellosen deutschen Städter bei mir zu Gast, der auf sich zurückgeworfen eine Schreibblockade entwickelte, dummes Zeug erzählte oder gar depressiv wurde. Seither schaue ich mir die Leute genauer an, die mich besuchen wollen. Im Ernstfall ziehe ich es vor, alleine zu bleiben. Für einen trockenen Alkoholiker ist das Alleinsein nicht ganz ungefährlich. Mit sich alleine ist ein Alkoholiker in keiner guten Gesellschaft, so sagt man. Ich muss also wirklich aufpassen.

Andererseits ist das Alleinsein auch eine Chance. Gerade höre ich einen Podcast über die Ideen von Carl Gustav Jung, dem neben Wilhelm Reich wichtigsten Schüler von Sigmund Freud. Jung ist vom in Sofia ansässigen Ost-West-Verlag komplett ins Bulgarische übersetzt. Das fällt mir ein, weil ich neulich in Sofia war und dort auch im “Ciela Books & Music Bookstore – Rektoratsunterführung”, also an der Universität. Natürlich ist auch Freud komplett übersetzt, bei Reich bin ich mir nicht sicher. Doch zurück zu Jung, an den ich bisher nicht rangekommen bin. Das ist gerade dabei, sich zu verändern. Der Grund dafür ist der bereits erwähnte Podcast und auch seine Kommentare.

Von der Permanenten Revolution zur Permanenten Pandemie

Der ein oder andere erinnert sich noch an die Aussage unseres früheren Innenministers Thomas de Maizière, dass ein Teil der Antworten die Bevölkerung verunsichern würde. Damals ging es nur um ein Fußball-Länderspiel in Hannover, das im letzten Moment abgesagt wurde. Jetzt, zehn Jahre später, würde eine Wahrheit das ganze Land erschüttern. Und das darf auf keinen Fall passieren. Deswegen wird die Wahrheit genauso abgesagt wie damals das Fußball-Länderspiel. Dann besser Permanente Pandemie, die Fortentwicklung der Permanenten Revolution, also die bruchlose Entwicklung von der demokratischen zu einer totalitären Revolution in halbfeudalen oder in zurückgebliebenen kapitalistischen Ländern, zu denen Deutschland mittlerweile gehört.

PS: Ich kenne Bastian Barucker, ich schätze seine Arbeit und kann das aktuelle & aufschlussreiche Interview mit ihm jedem empfehlen, der sich für das Thema Corona-Aufarbeitung interessiert.

Nigel Kennedy kommt nach Sofia

Am 13., also heute in einer Woche, spielt Nigel Kennedy in Sofia. Das ist noch nichts besonderes. Nicht wenige internationale Stars kommen in die bulgarische Hauptstadt. Besonders ist auch nicht, dass das Konzert im Nationalen Kulturpalast, dem NDK, stattfindet, der mich immer ein wenig an den abgerissenen Palast der Republik in Ost-Berlin erinnert. Auch die Ticket-Preise, die zwischen 70 und 140 Lewa liegen (35-70€), sind nichts besonderes. Auch an Bulgarien ist die Inflation nicht vorbeigegangen. Das besondere an dem Auftritt von Nigel Kennedy in Sofia ist, dass er nicht mit einem Orchester der bulgarischen Hauptstadt auftreten wird, sondern mit dem Vraca Symphonie Orchester. Dazu muss man wissen, dass Vraca eine ehemalige Großstadt im ärmsten Teil Bulgariens im Nordwesten ist. Ehemalige Großstadt deswegen, weil jeder Dritte sie verlassen hat. Trotzdem hat die Stadt seit einiger Zeit ein international besetztes Orchester, in dem auch mein englischer Freund Jerry immer mal wieder mitspielt und demnächst sogar dirigieren wird. Wenn ich in Bulgarien bin, besuche ich regelmäßig die Konzerte, obwohl auch da der Eintritt teurer geworden ist. Kostete er früher zehn Lewa, sind es nun 15. Obwohl der Konzertsaal neu gemacht und das Orchester international ist, sitzen in aller Regel mehr Menschen auf der Bühne als im Publikum. Da die Musiker aber für bulgarische Verhältnisse gut bezahlen werden, muss irgendwo das Geld herkommen. Jetzt, wo das Vraca Symphonie Orchester Nigel Kennedy begleiten wird, ist klar, dass es dem Orchester nicht nur nicht am Geld fehlt, sondern ebenso nicht an Kontakten. Diese sind immer noch wichtig in Bulgarien und werden auch in der Heimat an Bedeutung zunehmen. Ich werde übrigens nächste Woche nicht nach Sofia zum Konzert von Nigel Kennedy fahren. Dafür werde ich morgen nach Vraca fahren, denn da spielt Jerry wieder mit im Vraca Symphonie Orchester. Am Tag drauf bringt mir Jerry dann seine Becky vorbei, denn Jerry fährt für ein paar Tage nach Sofia. Allerdings nicht zum Konzert, sondern um Musikunterricht zu geben.

Acht von Zehn versus Zwei von Zehn

Am Donnerstag war ich wie geplant zum Maskenevent in Sofia. Ich wollte unbedingt mit Maske beim Event aufkreuzen, weswegen ich mir meine eigene Maske (Foto unten) gebastelt hatte. Kurzfristig habe ich mich dann doch dagegen entschieden, und zwar weil ich bei “Jumbo” eine Maske Typ “Venedig” (Foto oben) für 2,49 Lewa (1,25€) gefunden hatte. Das Event war in einem modernen Jazz-Club mit viel Beton und wenig Gipskarton. Es gab einen Willkommens-Drink (für mich Sprudel) und Live-Musik (Irisch-Bulgarisch). Von den 85 Leuten, die sich angemeldet hatten, waren etwa 50 gekommen, was eine gute Quote ist. Unter ihnen eine Autorin aus Estland, eine Architektin & Maklerin aus Deutschland und ein Privatier ebenso aus Deutschland. Es gibt zwei Dinge, die bei solchen Events hier anders sind als in Deutschland. Der erste Unterschied: Man muss einfach weniger aufpassen, welche Themen man anschneidet. In Deutschland sind viele Themen tabu, beispielsweise Corona. Das heißt jetzt nicht, dass man mit jedem hier dieses Thema auch bespricht. So ist es nicht. Man bekommt aber an einzelnen Worten, an den Zwischentönen und vor allem aus dem, was nicht gesagt wird, genau mit, wie der andere tickt. Und da ist es in Bulgarien so, dass acht von zehn die Erzählung von Anfang an nicht geglaubt haben. In Deutschland ist es (mal wieder) genau umgedreht. Der zweite Unterschied: Wo Musik erklingt, da wird in Bulgarien immer auch getanzt, weswegen man gar keine Zeit hat, jedes bescheuerte Thema zu beackern.

“Ich liebe es”

Am Donnerstag war ich für einen Tag in Sofia, wo obige Aufnahme entstand. Hatte ich in der bulgarischen Hauptstadt bisher einen Obdachlosen pro Tag gesehen, waren es diesmal drei. Soviel, wie ich in Berlin mittlerweile pro Minute sehe, sobald ich nur den Fuß vor die Tür setze. Und noch etwas ist anders. Niemand würde in Bulgarien auf die Idee kommen, auf der Straße zu leben als selbstgewählten Bohemen Lifestyle anzusehen. Eine Einschätzung, die ich in der Heimat öfters gehört habe, die in Wahrheit aber nur völlige Emhathielosigkeit ausdrückt. Wer Zweifel daran hat, möge selbst einen Tag und eine Nacht auf der Straße verbringen. Selbstgewählt – versteht sich.

“Wer Nazi ist, bestimmen wir”

Spätestens seit ich selbst als “Nazi” beleidigt und bedroht wurde, weiß ich, was es über die Person aussagt, die als “Nazi” bezeichnet wird – NICHTS. Umso mehr sagt es etwas über die Menschen, die andere als “Nazi” bezeichnen. Aktuell scheint es eine neue Entwicklung zu geben in der Heimat. Wurde ich “nur” mit dem “Nazi” vom Flohmarkt verjagt, werden jetzt mittels “Nazi” Menschen in Einkaufszentren eingekesselt. Was passiert als nächstes? Wird man dem vermeintlichen Nazi den Schädel einschlagen, ihn an der nächsten Laterne aufknüpfen oder “nur” sein Haus anzünden?