Nach der Wahl ist möglicherweise vor der Wahl in Bulgarien. Es kann durchaus passieren, dass hier im Herbst zum dritten Mal gewählt werden muss. Das Balkanland ist derzeit jedenfalls ohne Führung. Im Gegensatz zu Deutschland, das von Sektenführern geführt wird. Das meint zumindest Hanz-Joachim Maaz in obigen Interview, das so klingt, als wäre es in Bulgarien aufgenommen, das die “schlechteste” Impfquote hat und gleichzeitig kaum noch Corona-Tote, obwohl das Land voll ist von alten Leuten, die bekanntlich besonders gefährdet sind. Doch zurück zum Interview mit Hans-Joachim Maaz, der mir auch schon mal in Berlin im Taxi saß, als ich noch Taxi gefahren bin, und der sagt, dass der, der nicht von Sektenführern geführt werden möchte, mörderische Affekte aushalten können muss. Die kann ich auf jeden Fall bestätigen. An Sektenführer, die es sicherlich gibt, wenngleich gerade nicht in Bulgarien, habe ich andere Ansprüche.
Wir leben in einer Zeit des lebenslangen Lernens, so wurde und wird es uns erzählt, praktisch bis heute. Diese Ära ist dabei zu Ende zu gehen, und das Taxi fährt voran.
Demnächst soll ein jeder sich hinters Taxilenkrad setzen dürfen, auch wenn er nicht eine Straße oder auch nur ein Platz kennt. Sollte er doch einmal danach gefragt werden, wird die Antwort die sein, die es in Amerika zum Running-Gag der gesamten Dienstleistungsbranche geschafft hat: „I don’t know, I’m just working here!“ – Frage also in Zukunft nicht den Taxifahrer nach irgendetwas in der Stadt, sondern sei froh, wenn er das Autofahren beherrscht!
Es wird „gute“ Gründe geben, warum Nichtwissen plötzlich toll sein soll, auch wenn sich diese mir nicht erschließen wollen. Ich habe keine Ahnung, wie man solche Leute heute nennt, früher nannte man sie Ewiggestrige, und ich gehöre definitiv zu ihnen. Das war nicht immer so. Früher glaubte beispielsweise auch ich, dass der Kapitalismus vor allem eines braucht: dumme Konsumenten. Auch wenn ich es nicht beweisen konnte, so erschien es mir doch logisch, zumindest theoretisch. Diese einstige Theorie wird gerade endgültig in die Praxis umgesetzt, wir waren damals nur der Zeit voraus.
In Zukunft kann es passieren, du kommst am Berliner Hauptbahnhof an, steigst dort in ein Taxi, in dem der Taxifahrer, bevor er die Fahrt beginnen kann, in sein Navi das Brandenburger Tor, dein Fahrziel, eingeben muss, auch wenn dieses kaum einen Kilometer entfernt und praktisch in Sichtweite liegt. Vorausgesetzt natürlich, der Fahrer ist des korrekten Schreibens kundig, weswegen die Eingabe wohl bald fernmündlich ala „Alexa“ erfolgen wird oder bereits erfolgt. Dann kann es auch schon losgehen mit deiner Beförderung, alles auf mündliche Anweisung und ganz nach dem bekannten Motto: „Führer befiel, wir folgen dir!“ Als ausgebildeter Führer für Berlin und Potsdam frage ich mich gerade, ob es demnächst auch Stadtführungen von Führern ohne Ausbildung geben wird. Möglich ist alles, der Führer hatte schließlich auch keinen Führerschein.
Sicherlich, Taxifahren ist nicht die Welt, aber immerhin das mobilste und möglicherweise auch das zweitälteste Gewerbe auf dieser. Ich will das Taxifahren aber gar nicht überbewerten. Ärzte ohne Medizinstudium wird es wohl nicht geben – oder? Und vielleicht stimmt der Satz von Maria von Ebner-Eschenbach auch gar nicht, dass derjenige, der nichts weiß, alles glauben muss. Möglicherweise ist alles auch ganz anders. Für mich als Ewiggestriger ist mit dem Wegfall der Ortskundeprüfung für Taxifahrer, dem Ende vom Ende des Taxis, jedenfalls klar, dass ich mich nie wieder hinter das Lenkrad eines Taxis setzen werde. Warum sollte ich mich selbst downgraden oder mich unter meinen Wert verkaufen? Das wäre ja so, als würde der Arzt plötzlich als Putzfrau auf seiner Station arbeiten. Und überhaupt: Taxifahren hat auch Ehre!
Ein klein wenig Hoffnung habe ich noch. Wenn das eingangs zitierte Mantra des ewigen Dazulernens stimmt, dann ist das jetzt möglicherweise nur eine Phase, die sich morgen, vermutlich eher übermorgen, schon wieder ins Gegenteil verkehren kann und Wissen plötzlich wieder wichtig ist. Ich würde das nicht komplett ausschließen wollen, erlaube mir allerdings zu bedenken zu geben, dass die Verblödung vergleichsweise zügig voranschreitet – abwärts geht es bekanntlich immer schneller. Setzt man sie in Relation zu der Zeit, die nötig ist, um sich Wissen anzueignen, tippe ich aus dem Bauch heraus auf 1:5 wenn nicht gar 1:10. Mit anderen Worten ausgedrückt: Um ein Jahr Verblödung wieder gut zu machen, bedarf es fünf, wenn nicht gar 10 Jahre Bildung.
Möglicherweise ist der Point Of No Return, ab dem die Verblödung gar nicht mehr als Verblödung sondern als Normalität wahrgenommen wird, die dementsprechend auch nicht mehr korrigiert werden muss, aber auch vorher erreicht ist. Die Dummheit des Menschen ist nicht nur unendlich, wie Einstein meinte, sondern es gibt für sie, ganz wie auf unseren Autobahnen (haben die nicht die Nazis erfunden?), auch kein Tempolimit. Vielleicht sind wir über den Point Of No Return auch schon hinaus, immerhin wird uns die fortschreitende Verblödung durchaus erfolgreich als „Modernisierung“ verkauft.
Dann ist sowieso alles egal, dann kann ich auch mein ganz persönliches Lieblings-Endzeitszenario verraten, bei dem, wie sollte es anders sein, das Taxi voran fährt: Ein Mensch von morgen, ich wette einer von diesen Taxifahrern ohne Ortskenntnisse, wird von der Künstlichen Intelligenz, eine Art Super-Navi für alles und jeden, welches irgendwann in der Zukunft das menschliche Denken komplett übernommen hat, mit angenehmer aber bestimmender Führerstimme dazu aufgefordert werden, einen ganz bestimmten Knopf auf seinem mobilen End-Gerät zu drücken, weil dies für die Welt das beste sei. Und was macht der Mensch von morgen? Genau, er drückt diesen ganz bestimmten Knopf, und die Welt wird erlöst sein. Denn die Welt ist besser dran ohne den Menschen, allen voran ohne den von morgen.
Seit meinem Beitrag über meinen Bürgermeister und sein „Barchen“, in dem ich immer meine gut gekühlte Coca-Cola aus der 250 ml Glasflasche für einen bulgarischen Lewa trinke, was immerhin 50 Cent sind, habe ich viel nachgedacht über mein Leben im Allgemeinen und meinen Aufenthalt hier in den Schluchten des Balkans im Besonderen. Das liegt daran, dass mir beim Schreiben des Beitrags klar geworden ist, dass ich kein Betrüger bin, wie ich immer dachte, sondern im Gegenteil jemand, der betrogen wird, um es mal so zu formulieren. Doch der Reihe nach:
Offiziell bin ich in Bulgarien im Auftrag des Berliner Arbeitsamtes, wobei „im Auftrag“ zugegeben etwas übertrieben ist. Die genaue Bezeichnung ist „Arbeitssuche im Europäischen Ausland“, zu der ich die „Leistung“ des Arbeitsamtes, also das Arbeitslosengeld, welches mir zusteht, weil es sich dabei um eine Versicherung handelt, in die ich viele Jahre eingezahlt habe, mitgenommen habe, weswegen man von Amts-, also von Arbeitsamt-wegen, von einer „Leistungsmitnahme“ spricht.
Diese mitgenommene „Leistung“, die pünktlich überwiesen wird, in diesem Punkt habe ich kein Grund zur Klage, beläuft sich auf 20,99 Euro am Tag, was 627,90 Euro im Monat sind. Wie ich schon mehrfach erwähnt habe, schreibe ich nur ungerne über Geld. Da ich mich nunmehr aber dazu gezwungen sehe, möchte ich dabei umso genauer sein. Meine Wohnung in Berlin samt ihrer Nebenkosten kostet mich ziemlich genau 600 Euro im Monat, so dass mir von meiner „Leistungsmitnahme“ 27,90 Euro bleiben, was 99 Cent am Tag sind. Die ein oder andere Krämerseele wird jetzt möglicherweise auf seinem Sofa liegend einwenden, dass ich dann ja noch Wohngeld beantragen könnte. Auch daran habe ich natürlich gedacht, aber nicht umsonst geht’s beim Wohngeld nicht nur ums Geld, sondern im Wohngeld kommt auch das Wort Wohnen vor, und das tue ich nicht in Berlin. Wohngeld kannst du also vergessen meine lieber Korinthenkacker!
In Berlin würde ich jetzt losgehen und mich auf der Straße, wo ich viele Jahre zu Hause war, nach Büchern und leeren Flaschen umsehen, während ich die tausend Nachweise zusammensuchte, um besagtes Wohngeld beantragen zu können. Letzteres geht wie gesagt nicht, wenn ich gar nicht in Berlin wohne, und Bücher liegen hier in den Schluchten des Balkans nicht auf der Straße rum. Leere Flaschen liegen in Bulgarien dafür überall rum, und die meisten davon sind sogar aus Plastik, die in Deutschland immerhin 25 Cent das Stück einbringen, also ein Viertel meiner mir hier am Tag zur Verfügung stehenden Mittel, nur leider ist das deutsche Pfandsystem nicht bis in die Schluchten des Balkans vorgedrungen. Und Flaschen zu sammeln, um sie dann später in Deutschland abzugeben, funktioniert auch nicht, weil den Flaschen das deutsche Symbol fehlt, das sie erst zur wertvollen Pfandflaschen macht. Außerdem müsste ich sie dann noch irgendwie nach Deutschland bekommen, wo ich schon Sorge habe, ob und wie ich selbst überhaupt noch einmal nach hause nach Berlin komme.
Aber noch bin ich hier in Bulgarien und mir stehen genau 99 Cent am Tag zur Verfügung, was nicht nur ziemlich genau 1,95 Lewa sind, sondern auch 1,95 Deutsche Mark. In Bulgarien Geld zu tauschen ist immer auch eine Zeitreise, denn die bulgarische Währung hat bis heute den Wert der D-Mark. Hier kannst du, liebe gute alte D-Mark, also sehen, wie viel Wert du noch bist. In meinen weiteren Ausführungen werde ich deswegen die Beträge in D-Mark und nicht in bulgarischen Lewas angeben, einfach weil der Wert identisch ist, und damit du als Leser in Deutschland, der sich vielleicht noch persönlich an unsere gute alte D-Mark erinnert, etwas mehr damit anfangen kannst. Wie es dazu gekommen ist, dass der bulgarische Lewa 1:1 der deutschen Mark entspricht, soll uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem möchte ich das Stichwort „currency board“ für seine Recherche mit auf dem Weg geben.
Das erste, was ich nach meinem Kassensturz, bei dem herausgekommen ist, dass mir genau 99 Cent, also 1,95 D-Mark am Tag zur Verfügung stehen, beschlossen habe, ist, dass ich mir die eisgekühlte Coca-Cola aus der Glasflasche im „Barchen“ von meinem Bürgermeister nicht mehr leisten kann. Die kostet zwar nur eine ganze D-Mark, aber das sind gleich mal 50 Cent, also gut die Hälfte von den 99 Cent, die mir am Tag zur Verfügung stehen. Über meine weiteren einschneidenden Entscheidungen meinen Lebensstil in den Schluchten des Balkans betreffend, werde ich in meinen nächsten Beiträgen berichten, denn bei „Mein Leben mit 99 Cent“ handelt es sich um eine Serie. Was ich schon jetzt sagen kann, ist, damit mein Leben hier nicht nur rein rechnerisch, sondern auch ganz praktisch funktionieren kann, nicht nur einschneidenden Einschränkungen meines Lebensstil notwendig sind, sondern ich auch weitere neue Einkunftsquellen auftun muss.
Und da habe ich an dich gedacht. Sicherlich hast du dich beim Lesen auch schon gefragt, wie du mit 99 Cent am Tag zurechtkommen würdest. Solltest du eine Idee haben, so bin ich natürlich auch an der interessiert. Vor allem bin ich aber an deinem Geld interessiert. Das kannst du mir gerne Spenden, indem du mir etwas auf mein Konto überweist. Muss nicht viel sein, 99 Cent am Tag würden für den Anfang genügen. Immerhin würdest du meine jetzigen Mittel damit um 100 % aufstocken. Außerdem könntest du damit auch das Problem der Negativzinsen für dich lösen. Und zu guter Letzt kannst du die Spende von der Steuer absetzen. Was du dafür von mir bekommst, möchtest du natürlich wissen. Ich will es dir sagen: Ich versorge dich mit Informationen, wie in Zukunft auch du mit 99 Cent am Tag überleben kannst. Denn ich bin mit meinem Gang auf den Balkan „nur“ den Weg vorgegangen, den demnächst alle gehen werden – bald auch du.
PS: Bitte kontaktiere mich persönlich, um meine Bankverbindung zu erfahren. Danke im Voraus für deine Spende!
PPS: Da man in Bulgarien (noch) alles bar bezahlen kann, haben hier viele Menschen gar kein Konto. Auch ich überlege mein Konto in Berlin aufzulösen, für das die Gebühren im letzten Jahr von 1,50 auf 5,00 Euro im Monat über Nacht und um mehr als 200% gestiegen sind. Ich halte dich diesbezüglich auf dem Laufenden – wir finden einen Weg, wie der Bulgare für alles einen Weg findet, damit deine Spende trotzdem ankommt.
Foto&Text TaxiBerlin
Das Resultat meiner Arbeitssuche auf dem Balkan ist nach einem Monat immer noch Null, um ganz genau zu sein Null Komma Null, oder wegen mir auch 0:0, wenn ich die Anzahl der Fahrgäste in Berlin mit den Jobs hier ins Verhältnis setze. Wie zum Schluss in meinem Taxi habe ich Zeit ohne Ende, und so sitze ich jeden Abend in der einzigen im Dorf verbliebenen Kneipe bei meinem Bürgermeister, und wir schauen uns zusammen die Fußballspiele an. Ich muss dazu sagen, dass ich überhaupt kein Kneipentyp bin, und der Begriff Kneipe auch reichlich übertrieben ist. Es ist eher ein „Kneipchen“, die genaue Bezeichnung ist „Barchen“, die Verkleinerungsform von Bar, der Bulgare liebt die Verkleinerungsform. Manchmal schauen mein Bürgermeister und ich auch zusammen Nachrichten, aber Korruption und Vetternwirtschaft, die es, geht es nach den von Versace eingekleideten Moderatorinnen und Moderatoren im Fernsehen, nur hier in Bulgarien gibt, ist auf die Dauer doch etwas monothematisch – dann lieber Fußball.
Ich kenne meinen Bürgermeister nun seit gut 20 Jahren, schon damals hatte er seine Kneipe, obwohl er noch gar nicht Bürgermeister war. Später, als er bereits einige Zeit Bürgermeister war, eröffnete plötzlich im Örtchen und keine hundert Meter entfernt eine weitere Kneipe mit dem Namen „Beim Bürgermeister“, was man heute wohl als „fake news“ bezeichnen würde. „Beim Bürgermeister“ hat aber nicht wegen dieser „alternativen Fakten“ seit letztem Jahr geschlossen, sondern weil es sich im Dorf niemand mehr leisten kann, überhaupt in irgendeine Kneipe zu gehen. Dazu gleich mehr.
Im Dorf gibt es auch einen kleinen Lebensmittelladen, in dem das Billigste vom Billigen angeboten wird. Neulich wollte ich mir dort etwas Schafkäse kaufen, woraufhin mich die Verkäuferin, die mich genauso lange kennt wie ich den Bürgermeister, darauf hinwies, dass dieser Käse nichts für mich sei. Aber nicht etwa, weil er nicht aus Schaf- sondern aus Kuhmilch war, was im ärmsten Land Europas die Regel ist, sondern weil er vor allem aus Palmfett bestand, was noch billiger ist als Kuhmilch, man mit Palmfett also noch mehr Geld machen kann als mit Milch von der Kuh im Schafkäse. Mit der einst wohlschmeckenden bulgarischen Butter verhält es sich genauso. Bulgarische Butter heute ist Margarine, also Pflanzenfett, selbst Bulgaren kaufen jetzt deutsche Butter, vorausgesetzt sie können es sich leisten. Ich ließ also die Finger vom Schafkäse aus Palmfett und kaufte nur ein wenig Weißbrot, ohne das kein Bulgare überleben kann, das aber auch nicht mehr das ist, was es mal war, wobei mir nicht klar ist, was man beim Brotbacken noch einsparen und zu Geld machen kann. Vielleicht sollte ich auf Kartoffeln aus Deutschland umsteigen, die es mittlerweile auch in Bulgarien zu kaufen gibt.
Wenn die Verkäuferin nicht arbeitssuchende Gastarbeiter aus Deutschland vor ihrem Angebot warnt, bedient sie tagsüber auch die nicht vorhandenen Gäste in dem sich gleich neben ihrem kleinen Verkaufsladen befindenden „Barchen“ von meinem Bürgermeister. Am Abend ist mein Bürgermeister selbst der Barmann in seinem „Barchen“, dann serviert er mir die eisgekühlte Coca-Cola in der 250 ml Glasflasche für einen bulgarischen Lewa, was fünfzig Cent sind, Trinkgeld wird nicht akzeptiert. Das mit der Glasflasche ist wichtig, weil es in Bulgarien auch Plastikflaschen gibt, die nicht nur größer, sondern auch billiger sind, aus denen aber dem Bulgaren nichts so recht schmecken mag. Aus Plastikflaschen trinken in Bulgarien nur arme Menschen, aus Glasflaschen zu trinken ist also nicht nur eine Frage des Geschmacks sondern auch der Ehre. Mein Bürgermeister und Barmann ist nicht nur ein lieber netter Mensch, sondern auch einer, der sich um seine Leute, nicht nur in seiner Bar, sondern auch in seinem Dorf kümmert. Obwohl meinem Bürgermeister nichts über sein Dorf und dessen Bewohner geht, und er auch noch nie in Deutschland war, findet er es als Land gut. Deutsche leiden kann er aber nicht. Das sind ihm zu künstliche Menschen, die Deutschen, sagt er. Bei mir macht er aus alter Freundschaft, und weil ich treuester Kunde bin, eine Ausnahme.
Der Bulgare bringt es fertig, an jemanden etwas nicht zu verkaufen, selbst wenn er das Geld dringend nötig hat, nur um der Ehre willen. In diesem Punkt ist er irgendwie wie ein Deutscher, der bekanntlich etwas um seiner selbst Willen tut oder zumindest irgendwann einmal getan hat. Das „Barchen“ von meinem Bürgermeister, das sei noch erwähnt, ist genau genommen ein Gemischtwarenladen, in dem es beispielsweise auch Einmalrasierer (Foto) zu kaufen gibt. Den letzten Einmalrasierer hat mein Bürgermeister vor über einem Jahr verkauft. Seither rasiert sich niemand mehr im Dorf.
Das hängt auch mit dem Kurzarbeitergeld zusammen, das in Bulgarien gänzlich unbekannt ist. Mit dem Arbeitslosengeld, welches es gibt, verhält es sich in Bulgarien dagegen wie in Deutschland: Es gibt 60 %, allerdings nur neun, maximal 12 Monate – danach Null, also nichts. Hat der Bulgare, um mal ein Beispiel zu machen, vorher sagen wir 500 Lewa im Monat verdient, was für unsere ärmste Region im Nordwesten des Landes ganz OK ist, bekommt er, wenn er beispielsweise durch das planmäßige Herunterfahren der Wirtschaft seinen Job verloren hat, etwa 300 Lewa Arbeitslosengeld vom „bjuro po truda“, dem bulgarischen Arbeitsamt, was immerhin 150 Euro im Monat bzw. fünf Euro am Tag sind, das ganze wie gesagt maximal für ein Jahr.
Ich erwähne das „bjuro po truda“ auch, also das bulgarische Arbeitsamt, weil ich mich dort melden musste, damit das mit der „Leistungsmitnahme“ während meiner Arbeitssuche in den Schluchten des Balkans beim Jobcenter in Berlin durchgeht. Auch wenn ich ansonsten nicht gerne über Geld schreibe, so möchte ich an dieser Stelle eine Ausnahme machen, damit ein jeder versteht, allen voran ich selbst, warum ich mich gelegentlich wie ein Betrüger fühle in Bulgarien. Dabei hat der Bulgare, im Gegensatz zu mir, keine Wohnung in Berlin, für die er Miete zahlen muss, sondern wohnt hier in seinem eigenen Haus. Erwähnte 60 % Arbeitslosengeld sind bei mir zwar immerhin 600 Euro im Monat, also 20 Euro am Tag, aber 600 Euro kostet alleine schon meine Wohnung in Berlin im Monat, und das ist noch preiswert. Warum ich es mir leisten kann, jeden Tag bei meinem Bürgermeister in der Kneipe zu sitzen und eine eisgekühlte Coca-Cola aus der Glasflasche für 50 Cent zu trinken, manchmal sogar zwei, das verstehe ich jetzt, wo ich darüber schreibe, selbst nicht mehr. Denn rein rechnerisch bin ich derjenige, der auf Null ist, genau Null Komma Null, oder wegen mir auch 0:0 – und zwar jetzt schon, trotz „Leistungsmitnahme“ aus Deutschland. Betrüger sehen anders aus!
Neulich war es nun so, dass ich nicht der einzige Gast in dem „Barchen“ von meinem Bürgermeister war. Zwei ebenfalls unrasierte Dorfbewohner hatten sich aus alter Gewohnheit an dem ehemals vertrauten Ort eingefunden. Wir waren also zu viert: Die beiden ehemaligen Stammkunden, mein Bürgermeister und ich. Nicht nur, weil mein Bürgermeister ein professioneller Barmann ist, sondern auch weil dies in Bulgarien so üblich ist, hat er seinen Gästen etwas zu trinken angeboten. Natürlich nicht irgendwas, sondern ihr Lieblingsbier, das er weiß, weil sie einst seine Stammkunden waren. Und obwohl ich den Eindruck hatte, dass es sich spätestens nach der zweiten Nachfrage um eine Einladung handelt, das Bier also auf Kosten des Bürgermeisters gehen würde, wurde dieses dann noch weitere drei Mal – also insgesamt fünf Mal! – abgelehnt. Am Ende hatten beide gegen ihren ausgesprochenen Wunsch ihr Lieblingsbier, eisgekühlt und in der Glasflasche vor sich zu stehen. Zur Feier des Tages, Deutschland hatte gerade gegen ins eigene Tor schießende Portugiesen 4:2 gewonnen, gönnte ich mir eine zweite eisgekühlte Coca-Cola für umgerechnet 50 Cent in der 250 ml Glasflasche.
Heute spielt nun Deutschland gegen England, und ich werde wieder in die Kneipe gehen, obwohl ich wie gesagt gar kein Kneipentyp bin, um mir das Spiel zu anzusehen. Vermutlich werde ich wieder alleine im „Barchen“ von meinem Bürgermeister sitzen. Auch wenn er wie gesagt Deutschland als Land mag, so kann er das Spiel der Deutschen nicht leiden. Selbst das ist ihm zu künstlich. Ich selbst gehe nur in die Kneipe, damit mein Bürgermeister nicht ganz alleine dort sitzt. Auch ich kümmere mich um meine Leute. Deutschland gegen England geht mir sonstwo vorbei, ist für mich nur Brot und Spiele. Deswegen macht es mir auch nichts aus, heute auf die eisgekühlte Coca-Cola für 50 Cent in der Glasflasche zu verzichten. Ich fülle mir einfach vorher am Brunnen vor der Kneipe etwas Mineralwasser ab. Das geht auch, schließlich sind wir Bulgarien!
Wobei, jetzt wo ich darüber schreibe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich damit nicht auch bereits zu künstlich, also zu deutsch bin. Ich meine, was soll die ganze Rechnerei und das Nachdenken darüber, was ich mir leisten kann und was nicht. Das hängt doch auch vom Spiel ab, oder? Ob sie wieder deutsch, also berechnend spielen, oder mit dem Herz dabei sind. Und überhaupt, vielleicht lädt mein Bürgermeister mich ja auf ’ne eisgekühlte Coca-Cola in der 250 ml Glasflasche ein. Um auf Null zu bleiben und nicht ins Minus zu gehen, muss ich dann nur noch bis fünf zählen können. Nur bis drei zu zählen könnte klappen, muss aber nicht. Mit fünf bin ich auf der sicheren Seite.
Foto&Text TaxiBerlin
Foto TaxiBerlin