Bis vor kurzem wurde auch in Bulgarien der Müll getrennt gesammelt, aber gemeinsam entsorgt. Da gab es unter jedem Loch genaue Hinweise, was in dieses hineingehört und was in jenes. Man kennt das in Deutschland. Dort ist man Weltmeister im Trennen. In Bulgarien hat man das Prinzip nie so richtig verstanden. Das lag daran, dass am Ende jemand vorbeigekommen ist, der alles in einen großen Sack getan hat. Da man in Bulgarien manchmal auch konsequent ist, hat man jetzt einfach die Aufkleber entfernt. Und was soll ich dir sagen: Der Deutsche in mir ist nun nicht nur völlig hilflos, sondern er bekommt regelrecht Schweißausbrüche, wenn er auch nur an den drei Löchern vorbei läuft. Reingeschmissen habe ich bisher noch nichts. Ich kann mich einfach nicht entscheiden …
Heute fülle ich den gestern angesetzten Hollunderblütensirup ab. Die Flaschen dazu habe ich mir am Freitag in Vraca gekauft, das Stück für knapp zwei Lewa also einem Euro. Die beiden Kannen sind vom Flohmarkt am Montag in Montana. Zusammen haben sie sechs Lewa (drei Euro) gekostet. Jetzt, wo ich das Bild sehe, frage ich mich, ob die linke Kanne mit den roten Blüten und dem Gold nicht zu russisch ist oder gar schon pro-russisch?
Früher hatte ich einen Stammtisch, heute habe ich einen Stammplatz, und zwar im Konzert Saal. So weit ist es gekommen. Die 11. Reihe ist die vorletzte, und Platz 1 ist klar – rechts außen. Man sitzt dort sehr gut, auch weil erhöht, dafür aber etwas weit weg von der Bühne. Ich vergesse immer meinen Feldstecher mitzunehmen, muss ich beim nächsten Mal dran denken. Gestern war Violinen-Tag. Eine fesche junge Dame im roten Kleid hat das bekannteste aus „Carmen“ vorgespielt, was ehrlich gesagt nicht so meins war. Ich bin sowieso kein großer Fan von „Carmen“. Dann gab es noch etwas von der Schwester von Mendelssohn Bartholdy. Ich wusste gar nicht, dass er eine Schwester hat. Sie heißt Fanny Hensel. Schöner Name, wie ich finde. Das Stück war auch gut. Eigentlich wollte mein Nachbar, dass ich gestern auf sein Dach steige, um zwei Ziegel einzufügen, die im Winter ein Sturm runter geweht hatte. Ich musste ihn auf heute vertrösten. Ich wollte wenigstens noch beim Konzert gewesen sein, bevor ich mir den Hals breche. Das ist kein Spaß! Die Dächer in Bulgarien sind vergleichsweise steil. Gut, den Hals habe ich mich mir heute nicht gebrochen, aber meine Hose hat jetzt drei Löcher mehr. Mein Nachbar kam dann gleich danach zu mir, um meine letzten Bretter mit seinem Hobel zu bearbeiten. Den hat er vor 40 Jahren im Corecom, dem bulgarischen Intershop, für 100 Dollar gekauft und der funktioniert immer noch. Naja, ist auch eine Maschine von Bosch. Die Bretter bringe ich zwischen meine Bücherregale an, damit ich noch mehr Platz für meine Bücher habe. Ich weiß, das ist nicht leicht zu erklären. Ich habe es heute schonmal versucht und bin gescheitert. Trotzdem versuche ich es noch einmal. Ich habe sieben Bücherregale. Die Latten, die noch übrig sind, reichen nicht für ein achtes. Das war meine Hoffnung. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich die Latten zwischen die vorhandenen Regalen anbringen, sie mit ihnen sozusagen verbinden kann, ohne ein neues bauen zu müssen, was ich nicht kann, weil wie gesagt zu wenig Material, und trotzdem Platz für mehr Bücher zu haben. Habe ich mich verständlich ausgedrückt? Egal – wünscht mit auf jeden Fall Glück! (Das schlimmste habe ich sowieso hinter mir. Das war die Sache mit dem Dach heute Morgen.)
PS: Das wichtigste habe ich schon wieder mal vergessen. Das Ticket für das Klassik Konzert kostet seit einiger Zeit 20 Lewa (10€), früher waren es nur 12 Lewa (6€). Mein englischer Freund Jerry (der am liebsten Deutscher wäre), der im Orchester mitspielt, bekommt es für 6 Lewa (3€). Sonst könnte ich es mir nicht leisten, so oft zum Klassik Konzert zu gehen (genauer fahren – hin und zurück 70 km) und hätte somit auch keinen Stammplatz.
Das Weiße rechts in der Ecke sind die Hollunderblüten, aus denen ich heute wieder Hollunderblütensirup machen werde. Gestern in Vraca habe ich dafür leere Flaschen organisiert. Ich erwähne das mit den Hollunderblüten, weil sie weiß sind, und weiß bekanntlich die Farbe ist, die mit Reinheit, Unschuld, Sauberkeit, Neubeginn und Erleuchtung assoziiert wird. Sie symbolisiert oft das Gute, das Positive und das Unbefleckte, aber auch die Kapitulation. So weit will man es in der Heimat nicht nochmal kommen lassen, ganz offensichtlich hat im deutschen Irrenhaus ein Umdenken stattgefunden. Bisher kannte man solche Zahlen nur aus Bulgarien, aber neuerdings ist auch in Deutschland eine Mehrheit für eine andere Ukraine-Politik. Das ergab ganz aktuell eine repräsentative Umfrage vom Multipolar-Magazin, für das ich auch schreibe. Zuletzt habe ich dort aus Istanbul, Belgrad und Bukarest berichtet. Doch zurück zum deutschen Michel, der so langsam aus seinem Tiefschlaf zu erwachen scheint. Feministische Kriegspolitik, ganz egal was die Wähler an der Heimatfront denken, war gestern. Es ist zu hoffen, dass das Aufwachen nicht zu spät kommt und es nicht bald doch noch ein böses Erwachen gibt.
Ich bin durch Zufall in die Demo geraten, an der knapp 100 Menschen unterschiedlichen Alters und politischer Ausrichtung teilnahmen. Links der Herr, der gerade spricht, ist beispielsweise der Leiter des Veteranenverbandes der Stadt. Auch Frauen waren zahlreich vertreten. Was es nicht gab, das war Polizei. Es wurde heute nicht nur der Tag der Befreiung begangen, sondern auch der Tag Europas. Ganz offensichtlich gab es keine Verbote, was Flaggen angeht, auch wenn ich keine ukrainische gesehen habe. Bulgarien war im Zweiten Weltkrieg, wie auch schon im Ersten, auf der Seite der Deutschen, also auf der Verliererseite. Man spricht deswegen auch vom „Bulgarischen Orakel“. Das Orakel besagt, mit wem sich Bulgarien verbündet, verliert den Krieg. Und das gilt auch für die Zukunft. Wie gesagt, ich bin durch Zufall auf die Demo in der Stadt Vraca im Nordwesten, der ärmsten Region des Landes, gestoßen. Eigentlich war ich auf dem Weg zum Klassik Konzert. Wenn ich jetzt die Bilder aus Berlin sehe, wird mir einmal mehr klar, was für ein Irrenhaus Deutschland geworden ist. Ich meine, die Sowjetunion hat 27 Millionen Menschen in diesem Krieg verloren, und da streitet man sich in der Heimat allen Ernstes um ein paar Fahnen. Wenn ich sonst gerne und eher im Spaß Bulgarien als „Land of the Freaks“ bezeichne, ist es mir heute einmal mehr als „Land of the Free“ aufgefallen – und das meine ich ganz Ernst.
PS: Der Sprayer wurde, wenn ich mich richtig erinnere, damals rasch ausfindig gemacht und durfte bald darauf in die Bundesrepublik ausreisen. Wohin wirst Du demnächst ausreisen dürfen oder müssen?
Bill Gates hat angekündigt, sein gesamtes Vermögen verschenken zu wollen. Insgesamt will er 200 Milliarden Dollar spenden. Aber sagt man nicht, man solle Gutes tun und darüber schweigen? Und sowieso will er nur 99 Prozent verschenken. Zwei Milliarden würden also noch übrig bleiben für ihn. Überhaupt hört sich für mich die Information wie Werbung an, um in Zukunft noch mehr Geld zu verdienen. Ich muss sogleich an Oscar Wilde denken, der meinte, dass Philanthropie die Zuflucht für solche Leute geworden ist, die ihre Mitmenschen zu belästigen wünschen. Apropos belästigen: Interessant ist in diesem Zusammenhang, was Gates über seine Bekanntschaft mit dem toten Pädophilen Jeffrey Epstein sagt. Sie habe ihm nicht nur die Ehe mit Melinda Gates gekostet, sondern bringe ihn bis heute in Erklärungsnot. Aber warum das denn? Wenn er ihn doch nur gekannt hat! Laut New York Times schrieb Gates in einer Mail über Epstein, dass dessen Lebensstil „sehr anders und irgendwie faszinierend“ sei. Was genau ist an Kindesmissbrauch jetzt faszinierend? Noch einmal fällt mir Oscar Wilde ein, der über Philanthropen meinte, dass sie jedes Gefühl für Menschlichkeit verloren hätten. Ist die Antwort auf die Frage, was an Kindesmissbrauch faszinierend sei, vielleicht der Grund, dass Gates bis 2045 ein armer Mann sein will? Doch zurück zum Titel dieses Beitrags. Ich habe nicht wegen Bill Gates geweint. Und auch nicht um meine Eltern, auch wenn Nietzsche richtig feststellte, dass wohl jedes Kind Grund hätte, um seine Eltern zu weinen. Ich habe um mich geweint, weil ich vermutlich beim Geldsegen, der demnächst vom Gutmenschen Gates ausgehen wird, mal wieder leer ausgehen werde. Und dabei bräuchte ich für mein einzigartiges Projekt eines Rückzugsortes für Autoren, an dem es auch Esel gibt (Kindesmissbrauch ausgeschlossen!) gerade mal 75.370! – Noch einmal zurück zum bald armen Bill, der meinte, dass die Leute viel über ihn sagen werden, wenn er gestorben sei. Er sei aber fest entschlossen, dass „Er ist reich gestorben“ nicht dazugehören würde. Denn: „Es gibt zu viele dringende Probleme zu lösen.“ – Das ist in der Tat absolut richtig. Die größten Probleme allerdings scheint mir der Bill selbst zu haben. Vielleicht sollte ich doch um ihn weinen. Oder besser für ihn beten.