Leaving Berlin (051)

Als ich die Bäume einfach wachsen ließ, wusste ich nicht, dass es wilde Sauerkirschen sind. Normalerweise hätte ich sie abgeschnitten oder einfach herausgerissen, als sie klein waren. Das muss ich machen, damit mein Grund nicht zum Dschungel wird und die auf ihm stehende Hütte nicht zuwächst wie ein Dornröschenschloss. Die wilden Sauerkirschen habe ich stehen lassen, damit ich nicht permanent die Hütte auf dem Nachbargrundstück sehen muss, die dabei ist in sich zusammenzufallen. Sie sind aber nicht nur ein Sichtschutz, sondern tragen dieses Jahr ganz viele leckere Sauerkirschen. Gestern habe ich zwei Eimer geerntet. Bei der Ernte ist die Leiter zur Seite weggeknickt, und ich bin auf den Rücken gefallen. Ich hatte Glück, mir ist nichts passiert. Die Leiter ist aber im Arsch. Zusammengebrochen ist sie, weil der Untergrund uneben ist. Vor allem aber, weil ich nicht achtsam war. Es stimmt wirklich, wenn man in Bulgarien eines lernen kann, dann ist es Achtsamkeit. Manchmal vergesse ich das. Dann braucht man einen Schutzengel, so wie ich gestern. Danke, lieber Schutzengel! Dass ich die Sauerkirschen heute noch einmal einkochen muss, weil die Konfitüre aus Mangel an Pektin nicht fest geworden ist, ist Teil des Lernprozesses. In einem ähnlichen Lernprozess befinde ich gerade beim Brot backen. Dass ich die Leiter wegschmeißen kann, ist traurig, aber nicht zu ändern. Auch dies ein Teil des Lernprozesses.

Leaving Berlin (050)

Andere gehen ins Stadion oder in die Kneipe – ich gehe in meine Bibliothek. Mittlerweile haben sich so viele Bücher hier in Bulgarien angehäuft, dass ich Bücherregale brauche. Ich habe auch bereits einen bulgarischen Maistor damit beauftragt, und er war auch schon da und hat Maß genommen. Danach war er, wie es oft vorkommt in Bulgarien, nicht mehr gesehen. Ich war auch zweimal bei ihm, er war aber nicht zuhause oder hat einfach nicht aufgemacht. Ich will mich aber nicht beklagen über die kleinen Unwägbarkeiten des Lebens, die es nicht nur in Bulgarien gibt. Auch in Deutschland sind sie im Zunehmen begriffen. Kaum etwas funktioniert in der Heimat noch so, wie es einmal funktioniert hat. Bei vielen ist das noch nicht angekommen. Sie leben, wenn man so will, in der Vergangenheit. Auch ich lebe in der Vergangenheit. Denn ich halte an einer Sprache fest, die es so nicht mehr geben soll. Zumindest, wenn es nach den Genderisten geht. Um es ganz klar zu sagen: Ich glaube nicht, dass sich das Gendern durchsetzen wird. Wenn ich von der Sprache spreche, dann ist die gute alte Muttersprache gemeint. Meine Muttersprache bedeutet mir sehr viel. In Bulgarien wird mir das mit jedem Tag aufs Neue klar. Klarer als es mir in der Heimat schon war. Übrigens: Gendern gibt es auch in Bulgarien, wenngleich umgedreht, wie so vieles umgedreht ist in Bulgarien. Ein Beispiel: die Doktorin, auf bulgarisch “Doktorka”, will nicht länger “Doktorka” genannt werden, sondern Doktor. Dasselbe gilt für die Professorin, die “Pofessorka”. Komisch, oder? Doch zurück zur Muttersprache, die, so wie wir sie kennen, in Deutschland abgeschafft werden soll. Nur, mit der Abschaffung der Muttersprache, egal ob durchs Gendern oder durchs Englische, wird ebenso die Mutter abgeschafft. Auch deswegen halte ich an der Muttersprache fest. Deutsch ist dabei nicht nur Mutter, sondern auch Heimat für mich. Das hört sich pathetisch an, und ist es in gewisser Weise auch. Andererseits gilt aber auch: Wehe dem, der keine Heimat hat. Wer keine Heimat hat, ist nicht einfach nur ein heimatloser Geselle, wie man früher sagte. Er ist ein bedauernswerter Tropf, was so mit das bedauernswerteste ist, was Mann und auch Frau sein kann. Bei meinem letzten Besuch in Berlin hatte ich den Eindruck, dass die Stadt bevölkert ist von bedauernswerten Tröpfen. Dabei meine ich erst einmal nur ihre chronisch herunter hängenden Mundwinkel. Wenn sie dann noch den Mund aufmachten, habe ich immer gedacht: Hätten sie besser geschwiegen. Einen Hoffnungsschimmer gibt es wohl. Junge Menschen haben aktuell in der Heimat nicht so gewählt, wie man das von ihnen erwartet hat und weswegen man das Wahlalter auf 16 gesenkt hatte. Statt der Grünen haben sie die AfD gewählt. Angeblich sind das alles Nazis, aber was heißt das schon? Aus eigener Erfahrung, ich wurde von selbst ernannten Nazi-Jägern auch schon mal als Nazi bezeichnet, weiß ich es: Nichts! Und das scheinen die jungen Leute auch zu wissen. Ich erwähne das nicht, weil ich der Alternative für Deutschland nahe stehe – Gott bewahre. Ich erwähne die AfD, weil in ihrem Namen ein Stück Heimat steckt. Rein sprachlich, meine ich. War es denn nicht Deutschland, weswegen es die Einheit gibt? Es heißt doch noch “Deutsche Einheit”, oder? Von anderer Seite ist dagegen folgendes zu vernehmen: “Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.” Und das hier: “Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen.” Wenn das so ist, dann kann der Russe doch kommen. Dann haben wir doch nichts zu verlieren, oder? Wie Robert Habeck, unser grüner Wirtschaftsminister, zur Muttersprache steht, immerhin hat er Kinderbücher in ihr verfasst, ist nicht bekannt. Vermutlich findet er sie auch zum Kotzen. Deswegen kann ich mit Robert Habeck nichts anfangen. Was er mit der Wirtschaft veranstaltet, interessiert mich dabei nicht. Aber immer mehr Unternehmer sollen gegen ihn aufstehen in der Heimat, so wie junge Menschen gegen die Grünen stimmen. Beides macht mir Mut. Noch scheint die Heimat und mit ihr die Muttersprache nicht verloren.

Leaving Berlin (049)

Neulich hatte ich kein Wasser. Das kommt häufiger vor, denn die Rohre, die das Wasser runter ins Dorf befördern, sind alt und gehen oft kaputt. Aussehen tun die Rohre, als wären sie aus der Türkenzeit. In Wahrheit sind sie aber aus sozialistischen Zeiten. Geht ein Rohr kaputt, so ist das kein Notfall in Bulgarien. Die Leute von “Wasser und Kanalisation” kommen frühestens am nächsten Tag, manchmal auch erst Tage später. Sie sagen auch nicht vorher bescheid, dass sie kommen, wie es in Deutschland üblich ist. Vielleicht sollte ich besser sagen: war. Wenn sie kommen, machen sie “ganze Arbeit”. Dann wird auch schon mal die Straße verlegt, wobei Weg es besser trifft. Manchmal wird die Baustelle nach getaner Arbeit auch abgesperrt, wenngleich sehr bulgarisch, aber immerhin mit rot/weißem Absperrband. Anfangs sah es so aus, als hätte jemand Bäume auf dem Weg gepflanzt. Aber nach ein paar Tagen, als die Blätter vertrocknet waren, wurde auch dem Ortsfremden klar, dass die vermeintlichen Bäume nur zum befestigen des Absperrbandes dienten. In Berlin ist man, im Gegensatz zu Bulgarien, Weltmeister im Absperren. Dort wird Jahre vorher abgesperrt, bevor sich der erste Arbeiter auf der Baustelle zeigt. Auch dies ist in Bulgarien anders. Dort kommen zuerst die Arbeiter. Abgesperrt wird nach Lust und Laune – meistens nicht. Man ist gut beraten, stets mit offenen Augen unterwegs zu sein. Oder wie ich immer sage: Bulgarien ist perfekt, um Aufmerksamkeit zu lernen. Haben die Arbeiter ihre Arbeit beendet, heißt das noch lange nicht, dass man auch wieder Wasser hat. In meinem Fall war es so, dass es nur für kurze Zeit da war. Danach war es wieder weg wie zuvor, was daran lag, dass die Arbeiter vergessen hatten, den Hahn für unseren Abschnitt des Weges zu öffnen. Zum Glück wissen wir mittlerweile, wo sich der Hahn für unseren Abschnitt befindet, so dass wir ihn selber öffnen konnten, denn die Arbeiter von “Wasser und Kanalisation” saßen bereits im Dorf beim wohl verdienten Feierabendbier. Und das kann ich auch nur jedem in der Heimat empfehlen. Merkt Euch, wo die Hähne für Euren Abschnitt sind und lernt die wichtigsten Handgriffe. Dann wird alles gut. Garantiert.

Leaving Berlin (048)

Seit gestern habe ich einen Hund, genauer eine Hündin. Mein englischer Freund Jerry hat mir Becky vorbeigebracht, die er in seinem Dorf auf der Straße gefunden hat. Über den Umgang der Bulgaren mit Tieren, allen voran mit ihren Hunden, könnte man Bücher schreiben. Er ist, so viel kann ich verraten, ähnlich miserabel wie der Umgang mit der Natur im Allgemeinen. Doch bleiben wir bei Becky, die noch nicht alt ist, aber für die Hundeschule dann doch nicht jung genug. Mit Hunden ist es wie mit Menschen: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Es gibt Ausnahmen, die aber nur die Regel bestätigen. Jerry fährt heute übrigens nach Sofia, um sich eine Wagner-Oper anzusehen, aber vor allem anzuhören. Seine erste Wagner-Oper hat er mit 13 gesehen, wie ich gestern erfahren habe. Eigentlich auch zu spät, aber offensichtlich noch nicht zu spät. Auf jeden Fall beweist die Sache mit der Wagner-Oper, zu der Jerry extra nach Sofia fährt, in eindrucksvoller Weise, dass mein englischer Freund wirklich am Liebsten Deutscher wäre. Wenn es stimmt, was er sagt, ist Jerry sogar besser als ein Deutscher, denn als Engländer verfügt er über alles, was einen Deutschen ausmacht, darüber hinaus aber auch noch über Humor. Humor muss auch ich haben, wenn ich mit Becky über die Felder laufe. Da Jerrys Hündin wie gesagt zu alt für die Hundeschule ist, gilt für Becky das, was Otto Waalkes einst über seinen Hund sagte: “Mein Hund gehorcht mir aufs Wort. Wenn ich sage: Komm her oder nicht – dann kommt er her oder nicht.”

Leaving Berlin (047)

In Bulgarien muss man außerhalb geschlossener Ortschaften zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Licht fahren. Daran erinnert das Schild rechts im Bild am Ortsausgang von Montana. Das Schild ist kein offizielles Verkehrsschild, auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht. Immerhin gibt es ein Ausrufezeichen vor der Aufforderung, das Licht einzuschalten. Darunter der Hinweis, dass Licht Leben rettet – ebenfalls mit Ausrufezeichen. Die Schilder gibt es schon länger. Heute würde man vermutlich mit Licht nicht nur Leben, sondern auch das Klima retten. Wie dem auch sei, am Ende handelt es sich bei dem Schild um Werbung des Halbleiter- und Leuchtmittelherstellers Osram. Das Unternehmen war bis 2013 eine hundertprozentige Tochter der Siemens AG. Das Geschäft mit LED-, Halogen- und Energiesparlampen zur Allgemeinbeleuchtung, das 40 Prozent des Gesamtumsatzes erzielte, wurde 2016 an ein chinesisches Konsortium verkauft. Und das ist ein Problem, oder könnte eins werden. Denn Globalisierung ist nur so lange gut, wie der Chinese – wahlweise auch der Russe – nicht von ihr profitiert. Sobald das passiert, ist Globalisierung ganz schlecht. Mir ist das egal. Mir wird schlecht, wenn ich Schilder am Straßenrand sehe, die vorgeben, sich um mein Leben zu sorgen, mir aber nur etwas verkaufen wollen. Und das völlig unabhängig davon, wer mir da wieder etwas verkaufen will.

Leaving Berlin (046)

Willkommen auf meiner neuen Seite und bei einem weiteren Fundstück meines heutigen Flohmarktbesuchs in Montana. Es ist warm geworden in Bulgarien. Um einen klaren Kopf zu behalten, kühlt man diesen besser ab. Am Besten unter kaltem Wasser oder direkt im Schwarzen Meer. Um dabei keine Zeit für die Kriegsvorbereitung zu verschwenden, empfiehlt sich dieser schwimmende Panzer. In ihm kann man unten die Füße durchstechen, was eine gute Übung ist, um später dem Feind die Gurgel durchzustechen. Böse Zungen in Bulgarien behaupten, dass das mit dem Krieg für die Füße sei. Man könne einen Krieg gegen Russland nicht gewinnen, auch nicht mit Booten wie diesen. Sie seien lediglich ein Himmelfahrtskommando und der sichere Weg in den Tod.

Leaving Berlin (045)

Mein Favorit bei den aufgegebenen Bahnhöfen Bulgariens ist bis heute dieser hier. Der wurde so stilvoll aufgegeben, regelrecht beispielhaft. Einfach nur zu sagen, der letzte möge das Licht ausmachen, ist ganz nett und auch witzig. Aber die Frage, wie und in welchem Zustand man seinen Laden hinterlassen soll, wird damit nicht beantwortet. Und diese Frage wird mit jedem Tag dringlicher, in Deutschland mehr als in Bulgarien. Bulgarien wurde schon vor vielen Jahren dicht gemacht. Nun geht es auch in der Heimat bergab, und das mit stündlich zunehmendem Tempo. Auch dies keine Überraschung, denn wer hoch steigt, fällt in der Regel tief. Mir ist klar, dass die meisten in der Heimat dies bis heute nicht wahrhaben wollen. Ein Blick von außen kann da sehr hilfreich sein. Nicht nur in Bulgarien schüttelt man die Köpfe über Deutschland. Für viele ist es ein Dé­jà-vu, wiederholt sich gerade etwas. Denn das hatten wir schon mal, dass am Ende keiner von irgendetwas gewusst haben wollte. Im selben Moment aber ein jeder es schon immer gewusst hatte. Das sollte niemanden verwirren, es sind nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille. In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich vor wenigen Tagen einen Beitrag mit dem Titel “Sie wollen den totalen Krieg” gelesen habe, der mit einem Zitat von Albert Einstein endet. Bisher kannte ich nur dieses Gedicht von Bertolt Brecht: “Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.” Das Zitat von Albert Einstein hat dasselbe Thema, nur ein anderes Ende: “Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.” – Hatte ich mir bisher vorgestellt, dass Nachgeborene eines Tages verlassene Bahnhöfe wie obigen ausgraben und sich über die Ordnung wundern, stelle ich mir nun vor, wie Fellbekleidete dort mit Stöcken und Steinen kämpfen und dabei Urlaute ausstoßen.

Foto&Text TaxiBerlin