Die Kälte – Eine Isolation

Der Winter ist jetzt auch in den Schluchten des Balkans angekommen. Passend dazu lese ich “Die Kälte” von Thomas Bernhard. “Die Kälte” ist eines der fünf autobiografischen Bücher, die der österreichische Autor am Ende seines Lebens geschrieben hat. Genau heißt das Werk “Die Kälte – Eine Isolation”. Beides passt. Und auch das Novalis-Zitat am Anfang: “Jede Krankheit kann man Seelenkrankheit nennen”. Keine Sorge, ich bin OK. So OK wie man in der heutigen Zeit sein kann. Also eher nicht OK. In normalen Zeiten. Aber wann waren die Zeiten schon normal? Zu Thomas Bernhards Zeiten jedenfalls nicht. Denn was muss ich auf Seite 52 von Bernhards “Die Kälte – Eine Isolation” lesen: Ich hätte so vieles fragen müssen, nicht sollen, meinen Großvater, meine Großmutter, meine Mutter, was ich alles nicht gefragt habe, jetzt ist es zu spät, wenn wir die Gestorbenen fragen, die Toten, ist es nichts als die verbrecherische Nutzlosigkeit des Überlebenden, der ständig auf Absicherung seiner Verhältnisse aus ist. Ich habe die längste Zeit gehabt, Fragen zu stellen, und ich habe sie nicht gestellt, nicht einmal die wichtigsten Fragen.

Ausdauer und Abwehr stärken

Gestern war ich wieder Müll sammeln. Müll in Bulgarien, das sind vor allem Plastikflaschen, leere Zigarettenpackungen und Kaffeebecher und manchmal auch ein Plastikkanister wie gestern. Müll sammeln gehört zu meiner täglichen Routine. Müll einsammeln ist für mich Meditation. Müll in der Natur bereitet mir körperliche Schmerzen. Müll sammeln dient also auch der Schmerzlinderung und Schmerzprophylaxe. Müll sammeln ist für mich Balsam für die Seele. Da ich täglich Müll sammle, muss ich immer weitere Wege gehen, um Müll zu finden. Das sind, wenn man so will, die Schattenseiten des täglichen Müllsammelns. Ich gehe jetzt aber nicht los und verteile Müll in der Nähe. So ist es nicht. Vielmehr ist es so, dass das Müllsammeln so immer mehr meine Ausdauer und meine Abwehr stärkt. Ausdauer und Abwehr sind wichtig, insbesondere in Zeiten wie diesen.

Den Sack zumachen

Gestern war ich wieder Müll einsammeln. Ich gehe jeden Tag zweimal für jeweils eine knappe Stunde raus, und einmal davon sammle ich Müll ein. Müll gibt es in Bulgarien wie Sand am Meer, ich könnte auch sagen wie in Berlin. In Berlin habe ich noch nie jemanden Müll einsammeln sehen. Hier bin ich auch eine Ausnahme. Immerhin, im Tal der Esel in Südbulgarien, wo ich immer mal wieder zu Besuch bin, ziehen ganze Schulklassen mit Eseln los, um Müll einzusammeln. Mangels Esel muss ich immer alleine los. Dann wird aus Müll einsammeln Meditation. Das ist keine Übertreibung. Außerdem kommen mir beim Sammeln immer die besten Ideen. Ich sag jetzt nicht welche, probier es einfach selber aus. Auf dem Rückweg gibt es mir immer ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Praktisch das Gegenteil von “Ich krieg keine Befriedigung”. Am Ende mache ich den Sack zu, also den mit Müll. Normalerweise macht man das, wenn man genug Geld oder materielle Güter eingesammelt hat. Ich würde so weit gehen und sagen, dass meine Befriedigung größer ist.

Heute im Supermarkt

Heute war ich erst auf dem Basar und danach im Supermarkt. Der Supermarkt ist eine Kette mit dem Namen “Reich Arm” (Богат Беден). Ich gehe regelmäßig zu “Reich Arm” und habe auch schon hier darüber geschrieben. Trotzdem habe ich heute erst den Namen verstanden, und zwar als ich wieder draußen war: Man geht reich in den Supermarkt hinein und kommt arm wieder heraus.

Schön f***en

Ist Dir das auch schon aufgefallen: Von “Russland besiegen” spricht irgendwie niemand mehr. Komisch, oder? Auch von Unterstützung der Ukraine mit Waffen auf Teufel komm raus, egal was die Wähler in der Heimat darüber denken. Letzteres mag mit der bevorstehenden Bundestagswahl zusammenhängen. Was die militärische Unterstützung angeht, hat der Westen in der Ukraine fast bis zum letzten Ukrainer kämpfen lassen. Die Ukrainer werden sich bedanken, zumal man jetzt noch an ihre Bodenschätze will. Natürlich nicht der Deutsche, dafür ist er zu dumm. Gemeinsam mit anderen Europäern ist er dem Amerikaner, für den der Krieg immer weit weg war und der ihm zum Dank den Gashahn abgedreht hat, mal wieder blind gefolgt. Zur Belohnung darf er jetzt den Wiederaufbau finanzieren. Man kann auch sagen: Er hat sich mal wieder schön f***en lassen.

Von Kerkern und Bestien

Gerade war ich draußen, wo diese Bilder entstanden sind. Zweimal am Tag gehe ich raus, jeweils für 40 bis 50 Minuten. Also die Länge einer therapeutischen Sitzung. Beim Laufen kommen mir immer ganz gute Ideen, zum Beispiel dieser Beitrag. Auch weil ich ganz alleine hier bin, nur die Hunde von den Nachbarn sind noch da. Die bewachen mich. Die Nachbarn selbst kommen nur ab und zu, um nach dem Rechten zu sehen. Wäre ich einer ihrer Hunde, wäre ich ihnen schon längst an die Gurgel gegangen. Zum Glück gehen sie mir nicht an die Gurgel. Jetzt, wo ich darüber schreibe, frage ich mich, ob es nicht besser ist, ein Messer oder gar eine Axt mitzunehmen, wenn ich das nächste Mal rausgehe. Nur für den Notfall, falls die Bestien komplett ausgehungert sind. Ansonsten fühle ich mich sicher in meinem Denk- und Schreibkerker, in dem es sogar einen richtig warmen Raum gibt. Im Rest ist es so kalt wie draußen, auch im Schlafzimmer. Im Bett liege ich immer mit Schal und Wollmütze. Bevor ich ins Bett gehe, lege ich einen heißen Stein rein. Am Morgen ist der immer noch warm. Jetzt liegt er auf dem bullernden Ofen. Viele in der Heimat können sich so ein einfaches, zurückgezogenes Leben nicht vorstellen. Das höre ich immer wieder. Mir geht es genau umgedreht. Ich kann mir ein Leben mit Ablenkungen, Oberflächlichkeiten und Nothing-About-Nothing Mitteilungen nicht mehr vorstellen. In Bulgarien gibt es dafür sogar einen Ausdruck von Aleko Konstantinow. Das ist der Autor, dessen Bücher ich auf Deutsch herausgebe. Ganz genau ist es dieser Titel einer Kurzgeschichte von ihm, den praktisch jeder Bulgare kennt: “разни хора, разни идеали” – “Unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Ideale”.

An dem Blau-Weißen Pfahl in der Mitte orientiere ich mich bei Schnee

Es ist kalt geworden

Es ist kalt geworden in den Schluchten des Balkans. Bisher liegt nur auf den Bergspitzen Schnee, was sich heute ändern soll. So sagst es die Wettervorhersage, mit der ich diesmal mitgehe. Es liegt Schnee in der Luft, und ich habe vorgesorgt. Lebensmittelvorräte sind vorhanden, Holz liegt vor der Hütte und die zweite Gasflasche ist gefüllt. Wenn ich morgen nicht zum Basar kann, weil ich zugeschneit bin, ist das also kein Problem. Dann eben nächsten Freitag. Oder übernächsten …