Bericht aus Bulgarien (303) – “Wahlkampf”

In Bulgarien

Keine zwei Wochen mehr, und in Bulgarien wird wieder gewählt, und zwar am 2. Oktober. Während man in Deutschland “kriegsmüde” ist (was für ein trauriges aber vor allem schlimmes Wort), ist man in Bulgarien nur “wahlmüde”. Immerhin ist es die vierte Wahl in eineinhalb Jahren. Zählt man die Wahl des Präsidenten, der in Bulgarien direkt vom Volk gewählt wird, Ende letzten Jahres hinzu, ist es sogar dir fünfte. Dementsprechend ist das Interesse an der Wahl und den Wahlständen, es tendiert gegen Null. Bei der letzten Parlamentswahl im November lag die Wahlbeteiligung bei 40 Prozent. 60 Prozent, die Mehrheit also, sind Nichtwähler in Bulgarien. Die letzte Regierung der beiden Harvard-Boys Kiril Petkow und Assen Wassilev, eine Koalition aus vier Parteien, hatte gerade einmal 25 Prozent aller zur Wahl berechtigten Wähler hinter sich. Trotzdem wurde die Legitimation dieser Regierung niemals hinterfragt. Auch nicht vom “Werte-Westen” – im Gegenteil. Dieser wurde nicht müde ihre “pro-westliche” Fortschrittlichkeit zu loben. Was für ein Fortschritt? Dass eine Regierung ohne Legitimation regiert? – Damit solche und ähnliche Fragen nicht mehr gestellt werden, ist neuerdings die “Delegitimierung des Staates” justiziabel, zumindest in Deutschland. In Bulgarien undenkbar. Undenkbar deswegen, weil in Bulgarien bis zum heutigen Tag ein jeder alles sagen darf. Ich hatte das schon mehrfach geschrieben, und jetzt hat man mich auf dieses aktuelle Interview mit einem bulgarischen Arzt aufmerksam gemacht, der genau dasselbe sagt. – Ich stehe übrigens auch auf der Liste der Wahlberechtigten bei mir im Dorf, die seit zwei Wochen am Bürgermeisteramt aushängt. Mein Bürgermeister hat mich neulich sogar gefragt, ob ich wählen gehe. Spontan habe ich ja gesagt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Wenn die Legitimation des Staates in Frage zu stellen strafbar ist, was bleibt mir dann noch, als zum Nichtwähler zu werden?

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (302) – “Holz vor der Hütte”

Heute haben wir angefangen Holz zu machen. Der Herbst ist da, es wird also Zeit. In dem Zusammenhang habe ich mal wieder mit meiner Motorsäge gearbeitet. Dass ich sie das letzte Mal in Hand hatte, ist jetzt einige Zeit her. Auch deswegen passe ich besonders gut auf, versuche ich mich ausschließlich auf die Maschine zu konzentrieren. Eine spezielle Ausrüstung habe ich nicht, also keinen Helm zum Beispiel, sondern ganz normale Klamotten und Arbeitsschuhe, aber Handschuhe und eine Schutzbrille. Die Augen sind wichtig, ich brauche sie noch zum Lesen und auch zum Schreiben. Zwei Stunden habe ich gesägt mit der Maschine, das reicht für den Anfang. Ich denke, ein Viertel haben wir geschafft für den Winter, vielleicht auch nur ein Fünftel. Hängt natürlich auch vom Winter ab. Gestapelt haben wir das Holz so gut wir es konnten. Muss ja nicht gut aussehen. Morgen wird es eh verbrannt. Das meiste sind Äste und kleine und mittelgroße Bäume, die ich irgendwann einmal gefällt hatte rings um meine Hütte, und die ich bisher im Stall gelagert habe. Dass ich es bisher nicht gebraucht habe, liegt daran, dass ich früher nicht hier war im Winter, sondern in Berlin Taxi gefahren bin. Aus dem Stall will ich das Holz auch deswegen raus haben, weil er nicht mehr den stabilsten Eindruck macht. Und dann wäre es schade, wenn das Holz unter ihm begraben wird, wenn er, so wie viele Gebäude in Bulgarien, in sich zusammenfällt. Dann müsste ich erst den Stall wegräumen, um an das Holz heranzukommen. Eigentlich wollte ich den Stall immer mal ausbauen. Erst hat die Kohle gefehlt, dann die Maistors und jetzt fehlt beides. Es ist noch nicht lange her, da hatte ich die Idee, mir Esel anzuschaffen und in den Stall zu stellen. Einen hatte ich schonmal, genau war es eine Eselin aus meinem Dorf, mit der ich meine Wanderung durch Bulgarien gemacht habe. Aber einen Esel alleine in den Stall zu stellen ist Tierquälerei, denn Esel sind sehr soziale Tiere. Und dann wollen sie versorgt sein und was zu fressen haben. Im Moment bin ich froh, wenn wir genug zu essen haben. Und gerade freue ich mich, dass wir angefangen haben Holz zu machen, das wir erstmals unter der Betonplatte lagern, die ich letztes Jahr vor der Eingangstür habe machen lassen. Wir haben jetzt also Holz vor der Hütte, wie man so schön sagt. Darüber freue ich mich ganz besonders.

Fotos&Text TaxiBerlin 

Bericht aus Bulgarien (301) – “Russland ruinieren”

 

Russisches Feinschmeckergeschäft “Slawische Frau”
Vorgestern in Vraca musste ich feststellen, dass das russische Feinschmeckergeschäft “Slawische Frau” (“славянка”) dicht gemacht hat, in das ich gerne gegangen bin, um mir bulgarischen Sauerkischsaft zu kaufen. Einmal habe ich auch Datteln aus dem Iran bei der “Slawische Frau”gekauft. Dass ich keine russischen Produkte gekauft habe im russischen Feinschmeckergeschäft, liegt aber nicht daran, dass ich die Eigentümerin, eine junge Bulgarin, die auch selbst verkauft hat, ruinieren wollte, und schon gar nicht Russland, sondern daran, dass sich die russische Feinkost nicht allzu sehr von der russischen unterscheidet, und ich, um ehrlich zu sein, immer noch auf der Suche nach bulgarischer Feinkost bin, aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Das russische Feinschmeckergeschäft “Slawische Frau” ist jedenfalls ruiniert und möglicherweise auch bald bulgarische Bauern, worauf mich gestern ein regelmäßiger Leser meines Blog und Unterstützer meiner Berichterstattung hinwies. Der Hintergrund ist der, dass Bulgarien, ich vermute die letzte Regierung vom Harvard-Boy Petkow, den Zoll auf Getreide aus der Ukraine aufgehoben hat. Dadurch ist ukrainisches Getreide jetzt billiger als bulgarisches, was dazu führt, dass die hiesigen Bauern ihr Getreide nicht mehr los werden und selber bald nichts mehr zu essen haben. Darüber berichten nicht nur unabhängige Medien wie “Extrem News” und “Märkte Weltweit Medien”, sondern auch das staatliche bulgarische Nationalradio “Christo Botew”. Am Ende kommt es auf’s gleiche raus wie in Deutschland. Man ruiniert nicht den Russen, sondern an erster Stelle sich selbst, in dem Fall bulgarische Bauern und eine slawische Frau, die bulgarische Eigentümerin des russischen Feinschmeckergeschäftes “славянка”.
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Bericht aus Bulgarien (300) – “Panajir”

 

Der Schwarze Schwan

Gestern war ich bei Praktiker in der Stadt Vraca, die gut 30 Kilometer entfernt liegt. Ich gehe gerne mal zu Praktiker, weil es dort die deutsche Ordnung noch gibt, vermutlich mehr als in Deutschland. Später war ich auch bei DM, Lidl und Kaufland, alles nur wegen der Ordnung. Ganz zum Schluss musste ich mir dann wieder die volle Ladung Bulgarien geben, das übliche drunter und drüber, das hier “Panajir” heißt. “Panajir” ist der Rummel in der Stadt, die Kirmes auf dem Dorf heißt “Sibor” oder auch einfach nur “Sbor”. Viel könnte ich über den Rummel alias “Panajir” in Vraca schreiben, über den Schwarzen Schwan, den es dort gab, und mit dem man als Kind fahren konnte, über die Schießbude “Las Vegas”, wo man sich auch als Erwachsener für den nächsten Krieg, vermutlich ein Bürgerkrieg, schonmal “warmschießen” konnte, über die bulgarischen Würste und Garküchen, über die Bulgarischen Stadtmusikanten als Plakat und auf der Bühne, über die vielen “calculator crazy people”, die offenbar nichts anderes mehr können, als auf ihr Smartphone zu glotzen, aber auch über die zahlreichen ganz normalen Menschen, jung und alt, die gemeinsam der Musik lauschten und am Ende auch wieder tanzten, wie das in Bulgarien üblich ist, wenngleich diesmal nicht den bekannten bulgarischen “Ringelpietz mit Anfassen”, den “Horo”. – Über all das könnte ich wie gesagt schreiben, wozu mir aber gerade die Zeit fehlt, denn ich muss nicht nur Holz für den Winter machen, sondern auch mein Holz auf dem Dach und auch auf meiner Terrasse ölen. Deswegen war ich gestern bei Praktiker, um mir Öl für Holz zu holen, das auch imprägniert, und was gerade im Angebot war. Da ich viele Fotos gemacht habe, möchte ich diese sprechen lassen, denn Bilder sagen bekanntlich mehr als tausend Worte. Eines möchte ich unbedingt noch erwähnen, auch weil ich davon kein Foto gemacht habe. Es gab auch einen Stand,  an dem zwei junge Frauen Spenden gesammelt haben, und zwar für das erste und einzige “Bücherdorf” Bulgariens in Челопек, also Chelopek, unweit der Stadt Vraca, wo der Rummel war. Wenn es um Bücher geht, gibt es kein halten bei mir, ich bin bekanntlich büchersüchtig und organisiere gerade eine Selbsthilfegruppe “Büchersucht”. Den beiden jungen Frauen gestern geht es nicht nur um Bücher, sondern auch darum, unsere Region im Nordwesten, die sowohl die ärmste, als auch die mit dem schlechtesten Ruf ist, das eine dürfte mit dem anderen zu tun haben, bekannt zu machen und etwas gegen den schlechten Ruf zu tun, was ich bewundernswert finde. Vor 20 Jahren war ich schon einmal in dem Dorf Челопек, also Chelopek. Es wird keine 20 Jahre dauern, bis ich wieder hinfahre – da bin ich mir ziemlich sicher. Aber erst einmal muss ich mein Dach und auch meine Terrasse ölen, denn der Winter steht definitiv vor der Tür in den Schluchten des Balkans.

Viele weiße Schwäne

“Warmschießen” im “Vegas”

“Fleisch & Gemüse”

Bulgarische Garküche

Viel viel Fleisch (und auch Wurst)

Sehr gute Interpretationen von Todor Kolev Songs
“Нашият сигнал” (Unser Signal) war der Abschlusssong
Das Publikum

“палачинки” = Palatschinken
Guck mal! – Will ich!

Sie, die Zuckerwatte und er (rauchend)

Im Hintergrund das Balkangebirge

Links der Zuckerwatte-Mann

Die Trucks kommen

In der Gummizelle

Oder doch Quarantäne?

Das hässliche Entlein

Er nochmal, der Schwarze Schwan

Calulater crazy

Schiffsschaukel rammt Riesenrad – fast

Wer kein Auto hat, fährt Auto Scooter

Nicht alle schießen sich im “Vegas” warm

Der Mann mit den Affenpocken

Und noch einmal, weil’s so schön ist

Die serbische pikante “Nadenitza” kann ich empfehlen

Calculator crazy – die ganze Familie

Die Bulgarischen Stadtmusikanten

Jung & alt

Und alt und jung

Calculator crazy – auch sie

Fünf Lewa die Fahrt – nicht gerade ein Schnäppchen

Man gönnt sich ja sonst nichts
Fotos&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (299) – “Erhöhter Flugverkehr”

Überm Balkangebirge

Vorgestern gab es erhöhten Flugverkehr über dem Balkangebirge. Alle Flugzeuge sind Richtung Osten geflogen. In einer halben Stunde waren es 20. Ich musste sogleich an den Krieg denken. Wir sind näher am Krieg dran als an Deutschland, obwohl wir im Westen nahe der serbischen Grenze sind. Irgendwann hab ich bei Freunden nachgefragt, die weiter im Osten südlich vom Balkangebirge in der Nähe eines Militärflughafens leben. Dort sei alles normal, der übliche Flugverkehr, nichts auffälliges. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Militärflughafen dazu gehört, aber die USA haben fünf Militärbasen in Bulgarien, wo sie schalten und walten können, wie sie wollen. Praktisch so wie in Rammstein. Manch Bulgare beklagt sich darüber, dass die Amerikaner nichts dafür bezahlen würden. Als ob das das Problem wäre. Für den Bulgaren offensichtlich schon. Was den Flugverkehr über das Balkangebirge bei uns im Westen angeht, sind drei oder vier Flugzeuge normal, allerdings pro Stunde und in verschiedene Richtungen, also auch nach Norden, Westen und Süden. Man sieht das Gebirge, wenn man im Flieger sitzt. Als wir im Juli gekommen sind, haben wir sogar unser Dorf gesehen. Die Piloten orientieren sich am Gebirge, da bin ich mir sicher. Über den Schluchten des Balkans beginnt praktisch die Landung, denn Sofia ist dann keine 100 Kilometer mehr entfernt.

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Bericht aus Bulgarien (298) – “Dann fresse ich lieber Grass”

Unessbar

Normalerweise werde ich in unserem kleinen Dorfkonsum gewarnt, wenn ich etwas besser nicht kaufen sollte. Neulich war es Schafkäse, allerdings mit Kokosfett. Man kennt mich mittlerweile im Dorf. Aber heute war die Verkäuferin abgelenkt, als ich diese Banitza bei ihr kaufte. Um genau zu sein, war sie am Telefon, sprach mit jemand anderen und vergaß mich zu warnen. Denn diese Banitza war nicht nur ungenießbar, sondern unessbar. Am Ende habe ich sie dem Hund gegeben, der vor unserem Konsum wohnt, und der genauso ausgehungert ist, wie die meisten bei mir im Dorf. Banitza ist eigentlich wie Börek oder wie ein Strudel. Diese Banitza sollte Schafkäse enthalten, was sie aber nicht tat. War vielleicht wiederum besser so, weil wegen dem Kokosfett, das im Schafkäse drin sein soll. So ist es, wenn man in der ärmsten Region wohnt. Man bekommt dann auch nur das Billigste vom Billigen, den letzten Dreck sozusagen. Das Beste ist, man kocht selbst. Aber ich kann nicht alles machen: Schreiben, Fotografieren, Holz für den Winter machen, gucken dass der Stall nicht in sich zusammenfällt, … und noch backen. Und auch da muss man aufpassen. Selbst im Supermarkt gibt es nur das billigste vom Billigen. Praktisch überall, egal ob beim Heimwerker, im Schuhgeschäft oder beim Bäcker. Kannst du alles vergessen. Deswegen kaufe ich am liebsten Second Hand. Aber Banitza kann man nicht Second Hand kaufen. Aber vielleicht ja doch. Oder bald. Ich meine, bevor ich mir die Chips aus “Soylent Green”* reinziehe.  –  Dann fresse ich lieber Grass.

* Der deutsche Titel von “Soylent Green” ist “… Jahr 2022 … die überleben wollen”.

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Bericht aus Bulgarien (297) – “Auswandern”

Gebirge in Bulgarien – ein idealer Ort auch zum Schreiben

 

Ein Freund und Leser meines Blogs ist gerade in Bulgarien unterwegs, im Moment ist er in Balchik am Schwarzen Meer, auch weil er herausfinden will, ob die Schluchten des Balkans etwas für ihn sind, auch und gerade im Alter. Im Juni war er schon einmal hier gewesen, damals zusammen mit seiner Frau. Für beide war es das erste Mal, auch mit der kyrillischen Schrift hatten sie bisher keine Berührung. Und das ganze nur, weil sie zuvor meinen Artikel “Bulgarien – die große Freiheit” gelesen hatten. Ich finde das sehr mutig und absolut bewundernswert.

Aber nicht nur das. Ich bin davon überzeugt, dass das erst der Anfang ist. Denn ich gehe davon aus, dass nicht nur mein Freund und seine Frau überlegen, ob sie Deutschland verlassen sollten, und das ganz unabhängig vom Alter und auch der Altersplanung. Nicht alle denken beim Auswandern an Bulgarien, das ist klar. Und die an Bulgarien denken, denken oft ans Schwarze Meer, beispielsweise Varna, wo sich mein Freund heute hinbegibt, und vielleicht noch Sofia, so meine Erfahrung.

Das ist verständlich, weil das ist das, was die allermeisten kennen. Aber Bulgarien ist mehr als Sofia und Schwarzes Meer. Bulgarien ist vor allem Gebirge, davon gibt es jede Menge in dem kleinen Land am Rand, nicht umsonst schreibe ich immer von “den Schluchten des Balkans”, darüber hinaus Landwirtschaft und weniger Industrie, und einfache aber authentische und vor allem gastfreundliche Menschen.

Bulgarien und meine bulgarischen Verwandten, Freunde, Bekannten und selbst meine bulgarische Ex-Ehefrau, das realisiere ich mit jedem Tag mehr, ließen mich immer so sein, wie ich bin. Im Gegensatz zu Deutschland, sowohl DDR, als auch das wiedervereinigte Deutschland, wo ich immer irgendwie sein sollte, arbeiten sollte, Geld verdienen sollte, mich an Regeln halten sollte und vieles anderes sollte. Wer in Deutschland lebt oder schon einmal gelebt hat, weiß, wovon ich rede.

Auch die Angst ist nirgendwo größer als in Deutschland, und die Kontrolle, oder besser der Versuch der Kontrolle. Nur, das allermeiste im Leben kann man nicht kontrollieren oder gar unter Kontrolle halten. Die Idee, sein Leben unter Kontrolle zu haben, ist eine Illusion. Schon vor Corona realisierten dies Menschen in Deutschland, und nur allzuoft war die Folge eine Sucht oder gar eine Depression oder beides. “Depression Is The German Way”, sagte ich dann immer, inspiriert von “Desperation Is The Englisch Way” aus Pink Floyds “The Dark Side Of The Moon”.

In Bulgarien gibt es diese Illusion die Dinge kontrollieren zu wollen in der Form nicht, wie es sie in Deutschland gibt, und hat es sie wohl auch nie gegeben. Kontrolle ist dem bulgarischen Wesen in gewisser Weise fremd. Die Menschen sind eher spontan, leben im Moment und denken weniger an Morgen. Es kann durchaus passieren, dass man einen Ausflug ans Meer geplant hat und sich plötzlich im Gebirge wiederfindet. Mir ist das zumindest schon öfters passiert im “Land der Überraschungen”, wie Bulgarien von Insidern liebevoll genannt wird.

Vorgestern habe ich diesen Podcast über Bulgarien gehört, in dem genau darauf hingewiesen wurde, und das gleich von mehreren Interviewten. Unisono sagten sie, dass man besser kleine Pläne macht, wenn man nach Bulgarien kommt, sondern offen ist für das, was der Tag so alles bringt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer das ist. Ich habe ein halbes Leben dazu gebraucht davon loszukommen und bin immer noch nicht angekommen, mache immer noch Pläne, suche immer noch nach einer täglichen Routine, bin also selbst immer noch auf meinem Weg.

Aus meiner jahrelangen Erfahrung als Taxifahrer, und da insbesondere aus unzähligen Gesprächen mit meinen Fahrgästen, weiß ich aber auch, dass die, die sich gerne offen geben und immer wieder betonen, wie offen sie sind, oft die geschlossensten sind. Auch das war ein Prozess, dies für mich herauszufinden. Dass insbesondere Menschen, die ihre Offenheit betonen müssen, dies auch nötig haben, weil es in der Realität eben etwas anders aussieht. Auch und gerade weil das wichtigste im Leben die Veränderungen sind, ist es so schwierig, Dinge im eigenen Leben zu verändern. Es ist das Einfache, was so schwer zu machen ist.

Was bis heute konstant und sprichwörtlich ist, das ist die Gastfreundschaft der Bulgaren. So habe ich beispielsweise Geschichten gehört, dass Bulgaren kranke deutsche Touristen bei sich aufgenommen, in ihre Familie integriert und gepflegt haben, damit sie irgendwann wieder gesund und munter nach Deutschland zurückfliegen konnten. Später, wenn diese Bulgaren dann in Deutschland waren, wollten die von ihnen gesund gepflegten Deutschen aber nichts mehr wissen von ihren Krankenpflegern, hatten keine Zeit oder einfach kein Interesse, nicht mal daran, sich mit ihnen zu treffen, sie wiederzusehen.

Gastfreundschaft ist nichts, womit man Geschäfte mit machen kann. Das ist leider auch wahr. Wenn man das könnte, wäre Bulgarien ganz weit vorne. Gastfreundschaft findet man auch eher an Orten, wo weniger oder gar keine Touristen sind. Auch deswegen bin ich im Nordwesten, der ärmsten Region des Landes. Aber auch, weil ich sie mir leisten kann. Die Preise in Sofia und auch am Schwarzen Meer sind oft andere, selbst für die alltäglichsten Dinge.

“Не Всичко Е Пари” – “Nicht alles ist Geld”, ist ein bekannter Song des bulgarischer Rappers Kobaka aus den Nuller Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, der mir bis heute nicht aus dem Kopf geht, und auch das bulgarische Motto: “Mit Geld kann jeder!” – Aber natürlich muss auch ich von irgendetwas leben. Und so suche ich immer noch nach einem Kompromiss, wie ich mein reichhaltiges Wissen über Bulgarien an den Mann bringen kann.

Im Internet werden Kurse von Deutschen für Deutsche angeboten, die auswandern wollen, die mehrere hundert Euro kosten. Das könnte ich auch machen und sogar noch mehr Geld verlangen, nicht nur weil ich auch etwas bulgarisch spreche, was die allermeisten Anbieter der Kurse nicht tun, sondern weil ich vermutlich mehr weiß als sie alle zusammen. Immerhin war ich auch viele Jahre mit einer Bulgarin verheiratet und habe Verwandte, Bekannte und Freunde hier.

Und trotzdem tue ich mich schwer, solche Kurse anzubieten. Das liegt auch daran, dass ich eigentlich schreiben will, aber nicht nur. Denn auch in mir steckt der Wunsch, mein Wissen weiterzugeben und Menschen zu helfen, damit sie weiter kommen, nicht umsonst bin ich sowohl Taxifahrer, als auch Krankenpfleger.

Jeder, der sich mit dem Gedanken trägt, nach Bulgarien auszuwandern, kann sich jederzeit an mich wenden. Mein Spezialgebiet sind übrigens Esel in Bulgarien. Wenn ich helfen kann, dann tue ich das gerne, und was ich weiß, teile ich auch gerne. Was “Teilen” bedeutet, habe ich vor kurzem noch einmal bei den Meetings der Anonymen Alkoholiker lernen dürfen, wofür ich bis heute dankbar bin.

Dass auch ich von irgendetwas meine Rechnungen bezahlen muss, ist eine Selbstverständlichkeit, insbesondere für Menschen in der Heimat, die genau aus diesem Grund übers Auswandern nachdenken, also weil sie jetzt schon nicht mehr ihre Rechnungen bezahlen können in Deutschland oder demnächst. Das muss ihnen also niemand sagen, und schon gar nicht ich.

Was ich diesen Menschen mit auf den Weg geben möchte, ist folgendes: sucht nicht nur in den bekannten Orten, sondern im Gegenteil, schaut euch vor allem in den weniger bekannten Gegenden um; bleibt offen und haltet nicht starr an dem fest, wie es in Deutschland ist, auch in der Heimat verändern sich die Dinge rasant und vieles gilt dort jetzt schon nicht mehr, was gestern noch fest zu stehen schien; bringt Zeit mit, oft ist Zeit sogar wichtiger als Geld; und, vielleicht das wichtigste, macht Kontakte und schließt Freundschaften mit den Menschen vor Ort, in eurem Dorf oder eurer Stadt, wo ihr gerade seid, denn die Bulgaren sind wie gesagt sehr hilfsbereit; spielt nicht den Besserwisser und Rechthaber, und versucht vor allem nicht alles kontrollieren zu wollen, sondern seht eher, was der Tag euch alles bringt.

Wer Fragen zum Thema “Auswandern nach Bulgarien” hat, kann mich gerne jederzeit kontaktieren. Meine e-mail Adresse findest du oben rechts, wo auch mein Spenden-Link ist. Spenden sind auch immer willkommen – Danke!

Foto&Text TaxiBerlin

Bericht aus Bulgarien (296) – “Der Anti-Mensch”

Mein Artikel “Der Anti-Mensch” ist heute bei den Neulandrebellen erschienen, worüber ich mich aus mehreren Gründen freue. Erst einmal, weil ich die Arbeit der Neulandrebellen schätze. Dann, weil auch ich ein Rebell sein möchte, ich mich selbst aber nicht als solcher fühle. Dass ich mich nicht als Rebell fühle, liegt vor allem daran, dass mein Schreiben an erster Stelle Notwehr ist. Notwehr gegen alle Fehl-, Des- und Nichtinformation, die jeden Tag aufs Neue meinen Denkapparat beleidigen. Mein Schreiben ist so gesehen immerhin eine Rebellion gegen diese Beleidigung. – Da ich selber viele Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet habe, bevor ich erst Krankenpfleger und dann Taxifahrer wurde, kann ich mit Neuland etwas anfangen. Aus dieser Zeit stammt noch eine Melkberechtigung, die neben dem Taxischein und meinem Krankenpflegeexamen immer noch ihre Gültigkeit haben dürfte. Und dann habe ich irgendwann noch “Neuland unterm Pflug”, auf englisch Virgin Soil Upturned, von dem Russen Michail Scholochow gelesen.

Doch zurück zu meinem heute erschienenen Artikel “Der Anti-Mensch” bei den Neulandrebellen, der auch eine Referenz an Friedrich Nietzsches “Der Antichrist” ist, aus dem ich zwei Sachen zitieren möchte, die mir persönlich besonders wichtig sind, und die mich zu meinem Text “Der Anti-Mensch” inspiriert haben:

Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der “Fortschritt” ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance: Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.

Dann noch diese beiden Sätze aus Nietzsches Vorwort zu “Der Antichrist”, die nicht nur genial, sondern darüber hinaus eine wahr gewordene Prophezeiung sind:

Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren.

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Bericht aus Bulgarien (295) – “Neues in der Berliner”

Vitamin C in Bulgarien – Taxis

Ein Freund und Leser meines Blogs wies mich gerade auf diesen aktuellen Artikel Großes Taxisterben in Berlin: Zahl der Fahrzeuge um ein Drittel geschrumpft” in der Berliner hin. Der Beitrag von Peter Neumann ist für mich aus zweierlei Gründen interessant. Zum Einen, weil darin der Vorsitzende der Berliner Taxiinnung Leszek Nadolski mit folgenden Worten in den Text eingebaut ist:

„Die Umsätze sind durch illegal agierende Mietwagenbetriebe bereits in den letzten Jahren stetig gesunken, und sie werden weiter sinken“, lautete die Einschätzung des Vorsitzenden, der selbst Taxi fährt. „Bei einem durchschnittlichen Taxiumsatz von 19 bis 21 Euro in der Stunde sind wir in Berlin schon jetzt nicht mehr in der Lage, unsere Angestellten gesetzestreu und ordentlich zu bezahlen. Alle Reserven sind aufgebraucht. Der nächste Schritt ist die Illegalität, kein Unternehmer, der so wenig Umsatz generiert, ist in der Lage, wirtschaftlich zu arbeiten“, warnte Nadolski.

Leszek Nadolski, wie gesagt Vorsitzender der Berliner Taxiinnung, war im Dezember 2019 so freundlich, zu meiner 40. Radio-Show “Hier spricht TaxiBerlin” ins Studio zu kommen, um das zu übersetzen, was der Lands- und Theatermann Przemyszlaw Woscieszek, dem ich an dieser Stelle noch einmal für seinen Mut danken möchte, über seine Erfahrungen als Uber-Fahrer in Berlin zu berichten hatte. Die komplette Radiosendung kann man hier nachhören.

Mit Peter Neumann, dem Autor des Artikels in der Berliner Zeitung, hatte ich Anfang des Jahres einen e-mail Austausch, in dem ich ihn darauf hinwies, dass das kurz zuvor von ihm zitierte Taxigutachten völlig veraltet ist. Dass er es immer noch in seinen Beiträgen ins Spiel brachte, auch ich erwähne es kurz in meinem Beitrag für die Berliner Zeitung, läge daran, so Neumann, dass es kein aktuelles gäbe.

Nur weil es kein aktuelles gibt, ein veraltetes und nicht mehr zutreffendes so zu zitieren, als wäre es aktuell, ist nicht gerade die feine englische Art. Genau darauf wies ich Neumann hin. Dass er nun Nadolskis Aussagen unkommentiert stehen lässt, immerhin ist von “illegal agierenden Mietwagenbetrieben”, “gesetzestreuer und ordentlicher” Bezahlung von Taxifahrern und von “Illegalität” die Rede, in die sich Taxi-Unternehmer demnächst begeben könnten, werte ich als Erfolg.

Für mich habe ich jetzt mit Hilfe der Berliner Zeitung herausgefunden, dass ich, weil ich kein Taxiunternehmer war, obwohl ich immer mal wieder damit geliebäugelt habe und auch den dafür notwenige IHK-Abschluss habe (echt, und nicht in Nürnberg gekauft!), sondern “nur” Taxifahrer, nicht in die Illegalität, sondern “nur” in die Schluchten des Balkans gegangen bin. 

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Bericht aus Bulgarien (294) – “In Corona”

Hier war die Praxis des Pathologen Dr. Dimiter Dimitrov

Früher hat ein Pathologe die Todesursache festgestellt, insbesondere dann, wenn sie umstritten war. In Bulgarien, wo vieles nicht nur anders, sondern ganz und gar umgedreht ist, Ja bedeutet beispielsweise Nein, und Nein Ja, sind die Leute noch zu Lebzeiten zum Pathologen gegangen, um ihre Todesursache feststellen zu lassen. Deswegen haben Pathologen hier immer ein Schild am Haus, damit ein jeder zukünftige Tote sie auch findet. Obiges Schild in der Ljuben Karavelov Straße in der bulgarischen Hauptstadt Sofia weißt auf die Praxis von Dr. Dimiter Dimitrov hin, der Pathologe ist. Da der Pathologe Dr. Dimiter Dimitrov, er war der letzte im Land verbliebene Arzt überhaupt, vor einiger Zeit selber verstorben ist, ist nicht nur seine Todesursache bisher unklar geblieben, sondern aller nach ihm verstorbenen Bulgaren. Das liegt daran, dass nicht nur alle anderen Pathologen, sondern alle Mediziner im Ausland sind, viele von ihnen in Deutschland. Das zeigt Stephan Komandarev sehr gut in seinem Film “Posoki – Directions”, wo nicht nur Popen Taxi fahren, sondern auch Ärzte auswandern. Der Fachbegriff unter Ärzten in Bulgarien dafür ist “Evakuierung”. Jedenfalls gibt es in dem kleinen Land am Rand keine Ärzte und auch keine Pathologen mehr, dafür immerhin noch Taxifahrer und Taxifahrende Popen. Deswegen kann auch keiner mehr sagen, ob jemand “an”, “mit” oder “im Zusammenhang mit” Corona gestorben ist. Und so hat man sich nach vielen Diskussionen selbst im staatlichen Nationalradio “Christo Botew” in Bulgarien aktuell auf die Sprachregelung “in Corona” geeinigt, was “in Zeiten von Corona” meint. Die Entscheidungsfindung beim Bulgaren dauert immer etwas länger, und meist wird auch keine Entscheidung getroffen, sondern einfach neu gewählt wie jetzt am 2. Oktober. Es ist die vierte Wahl in eineinhalb Jahren, zählt man die Wahl zum Präsidenten Ende letzten Jahres mit, sogar die fünfte. Möglicherweise wird die neue Regierung dann endlich auch offiziell Corona für beendet erklären, so dass “in Corona”, auf das man sich zwar geeinigt hat, was aber keinen kümmert, auch keine Rolle mehr spielt. Wenn ich es richtig verstehe, sind Bulgarien und Deutschland die einzigen Länder in Europa, die noch stur an Corona festhalten. Beim Bulgaren, der, indem er sich an Deutschland hält, seinen alten Fehler erneut zu wiederholen scheint, was schon zweimal in die Hose gegangen ist, liegt es daran, dass er keine gewählte Regierung hat, sondern nur eine amtsführende. Aber selbst die letzte angeblich gewählte Regierung war nur von einer Minderheit gewählt worden. 60 Prozent der Bulgaren sind Nichtwähler. Dass Deutschland, im Moment noch wie beschrieben und auch nur halbherzig zusammen mit den “des regiert seins müden” Bulgaren, als einziges europäisches Land trotz gewählter Regierung noch an Corona festhält, kann ich mir nur so erklären, dass die uns Regierenden müde, sozusagen “regierungsmüde” sind. Der aus der Geschichte bekannte “deutsche Sonderweg” könnte bei Corona auch eine Rolle spielen, was wir aber nicht hoffen wollen. Denn das könnte wieder mit “am deutschen Wesen soll sie Welt genesen” und einem globalen Debakel enden. Ich empfehle Deutschland, sich auch in Sachen Corona sich an den Bulgaren zu halten und es bei “in Corona” zu belassen. Auch wenn alle bulgarischen Ärzte und auch Pathologen in Deutschland sind, und sie, wenn gewollt, die genaue Todesursache herausfinden könnten, wird diese demnächst niemanden mehr interessieren.

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